Deathbook (German Edition)
stehen und atmete tief ein. Die Luft war warm und roch nach Asphalt und Autoabgasen. Das war der Geruch ihres Viertels. Julia mochte ihn. Es war etwas, was alle Menschen hier miteinander verband, so unterschiedlich sie auch sein mochten. Die Luft, die Häuser, der tägliche Kampf ums Überleben.
Sie lief mit schnellen Schritten nach links den Bürgersteig hinunter. Der Block, in dem sie bei ihren Eltern lebte, lag keine zehn Minuten zu Fuß entfernt. Sie überquerte eine löchrige Rasenfläche, in der etliche Lagerfeuer ihre Spuren hinterlassen hatten, schlug sich durch eine Reihe Büsche, weil es den Weg abkürzte, und lief dann den Trampelpfad an der Autobahn entlang. Anderthalb Meter höher zischten Autos mit hoher Geschwindigkeit vorbei.
Erst hier wurde Julia langsamer. Sie hatte sich beruhigt. Tobias würde schon nachgeben. Er war nicht der harte Kerl, der er vor seinen Kumpels sein musste. Ganz im Gegenteil, er hatte sogar einen sehr weichen Kern und war verletzlich. Was seine Freunde von ihm hielten, was Fremde von ihm dachten, das war für ihn wichtig. Er ertrug es nicht, wenn man auf ihn herabblickte, und mit Kritik konnte er kaum umgehen. Das machte es für sie ja so schwierig, ihn aus dem Dunstkreis von Troublemaker herauszubekommen.
Zwei Jahre noch, dachte Julia, dann würde sie den Abschluss machen und von hier verschwinden. In dieser Stadt gab es keine Zukunft für sie, das wusste sie. Wer aus diesem Ghetto kam, bekam keine Chance, auch nicht mit Abitur. Sie musste in eine andere Stadt, wo niemand sie kannte. Eine Ausbildungsstelle als Mediengestalterin in einer Werbeagentur würde ihr gefallen. Studium konnte sie vergessen, dafür hatten ihre Eltern keine Kohle, und Bafög kam nicht in Frage. Sie wollte keine Schulden machen beim Staat, damit der sie dann jahrelang in der Tasche hatte und bestimmen konnte, ob sie arbeiten ging oder nicht.
Sie wusste, dass sie Tobias zurücklassen würde.
Aber das lag noch weit in der Zukunft, und bis dahin musste sie sich hier durchschlagen. Sie hatte keine Lust, ihren Freund zwei weitere Jahre mit Troublemaker zu teilen.
Als sie aufblickte, sah Julia, dass ihr auf dem Trampelpfad jemand entgegenkam.
Das war nicht ungewöhnlich, auch nicht zu dieser Zeit. Jeder aus dem Viertel benutzte diesen Weg.
Trotzdem behielt sie die Gestalt im Auge. Es war ja nicht so, dass sie hier noch keine schlechten Erfahrungen gemacht hätte. Sie war blond, schlank und kleidete sich gern sexy, das waren drei Signale an Männer, die gern auch mal falsch verstanden wurden. Sie hatte keine Angst. Sie konnte kratzen, beißen und schlagen und hatte für den Notfall immer ein kleines Messer in der Hosentasche. Die Klinge war zwar nur fünf Zentimeter lang, aber ziemlich scharf.
Noch war die Gestalt nur ein großer schwarzer Schatten. Sie hatte einen unsicheren Gang, taumelte leicht, hielt sich sogar einmal an dem Maschendrahtzaun fest, der das Areal zur Autobahn hin abgrenzte.
Ein Besoffener.
Julia entspannte sich. Solche Typen waren ungefährlich.
Als er nur noch dreißig Meter entfernt war, krallte der Mann plötzlich beide Hände in den Zaun, beugte sich vornüber und begann zu würgen.
Scheiße, war das eklig.
Julia wandte den Blick ab und beeilte sich, an ihm vorbeizukommen. Sie wollte weder sehen noch riechen, wie der Typ sich übergab. Sie schlug einen kleinen Bogen, konnte aber wegen der dichten Büsche nicht allzu weit ausweichen. Als sie schon fast an ihm vorbei war, sackte der Mann auf die Knie und gab ein Geräusch von sich, als würde er krepieren.
Julia ging noch ein paar Schritte, blieb dann stehen und sah zurück.
«Geht’s?», fragte sie. «Brauchen Sie Hilfe?»
Keine Antwort. Stattdessen wurde der Mann von einem Hustenanfall geschüttelt. Der massige Rücken bewegte sich auf und ab, der Maschendraht vibrierte unter den Händen des Mannes. Er hatte die Kapuze seines schwarzen Pullovers über den Kopf gezogen, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte.
Julia war unsicher. Sie hatte keine Lust auf so etwas, konnte aber auch nicht einfach weitergehen. Was, wenn der Mann hier krepierte? Es wäre nicht das erste Mal, dass man im Viertel jemanden tot auffand, an seiner eigenen Kotze erstickt.
«Hey, Mann, soll ich den Notarzt rufen?»
Der Typ beruhigte sich etwas, schüttelte den Kopf und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Es gelang ihm nicht. Er zerrte an dem Maschendraht, der unter seinem Gewicht nachgab.
Julia machte ein paar schnelle Schritte auf ihn
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