Deathbook (German Edition)
Eilschritt. Ihr VW Golf parkte auf der anderen Straßenseite. Sie stieg ein, startete den Motor und fädelte sich in den Verkehr ein.
Bis zu Andreas würde sie eine Dreiviertelstunde brauchen. Wenn sie ihn auch wieder zurückfahren müsste, noch einmal so lange. Dazwischen die Vernehmung durch Kieling. Vor zwanzig Uhr würde sie nicht Feierabend bekommen. Aber das störte Manuela nicht. Sie würde sowieso nicht abschalten können. Dieser Fall entwickelte sich in einem haarsträubenden Tempo in eine Richtung, mit der niemand rechnen konnte. Trieb wirklich ein Psychopath im Internet sein Unwesen? Ließ er Menschen vor laufender Kamera sterben und verschickte die Videos an User, die den Täter irgendwie auf sich aufmerksam gemacht hatten? Und was sollte das mit dem Beitrag?
«Dreh ein Video davon, wie jemand stirbt, oder wir drehen ein Video, wie DU stirbst.»
Genau das hatte die Maskenstimme am Ende des Videos, in dem das junge Mädchen auf dem Eisblock gestorben war, gesagt. Es war ein qualvoller Tod gewesen, und Manuela hatte die nackte Todesangst in den Augen des jungen Mädchens deutlich sehen können. Das stumme Flehen darin, jemand möge sie erlösen. Das Unverständnis, warum gerade ihr dies passierte. Heutzutage kannten die Mörder keine Grenzen mehr. Was denkbar war, wurde auch gemacht. Und immer wieder waren es junge Frauen, die zu Opfern wurden. Immer und immer wieder das alte Spiel zwischen Mann und Frau. Das Ausüben von Macht gegenüber jemandem, der keine hatte. Irgendwann einmal musste das doch ein Ende haben. Irgendwann musste das männliche Geschlecht doch einsehen, dass es kein naturgegebenes Recht auf Macht hatte.
Manuela spürte, wie sehr sie sich in die Sache hineinsteigerte. Während sie fuhr, wurde sie richtiggehend wütend. Das war eine ziellose, undefinierbare Wut, die heiß in ihrer Kehle brannte. Sie kannte solche Attacken von früher. Schon als Teenager war ihr Temperament hin und wieder mit ihr durchgegangen. Ungerechtigkeit konnte sie einfach nicht ertragen.
Sie musste an ihren jüngeren Bruder denken, an Timmy. Trotz ihrer Wut huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Sie waren auf dieselbe Schule gegangen, und es war ihre Aufgabe als ältere Schwester gewesen, auf ihn aufzupassen. Aber das hatte sie gern getan. Sie und er hatten immer schon ein besonderes Verhältnis zueinander gehabt, und wenn in der Schule jemand den schmächtigen Timmy Sperling aufmischen wollte, dann musste er erst an Manuela vorbei. Sie selbst war ebenfalls klein und dünn gewesen, hatte aber immer gewusst, ihr Mundwerk einzusetzen. Es war lächerlich einfach, Teenager mit Worten zu vertreiben, wenn man einmal wusste, wie es ging. Damals, in der Schule, hatte sie hin und wieder diese Wutattacken gehabt, und was sie dann von sich gegeben hatte, war alles andere als druckreif gewesen.
Manuela nahm sich vor, Timmy mal wieder anzurufen. Es wurde Zeit. Das letzte Gespräch lag mehr als zwei Wochen zurück. Seitdem er sein Journalismusstudium aufgenommen hatte, wurden ihre Kontakte seltener. Das war schade. Gleich morgen würde sie Timmy anrufen.
Je weiter sie aus der Stadt hinausfuhr, desto waldreicher und einsamer wurde die Landschaft. Hin und wieder ein kleines Dorf, ein Gehöft, dazwischen Weiden, Äcker und Mischwald. Die Straße führte durch schattige, dunkle Blättertunnel. Das Spiel von Licht und Schatten gaukelte Bewegungen vor, wo keine waren, und verbarg sie, wo es sie gab. Mehr als nur ein paarmal trat Manuela auf die Bremse, weil sie meinte, ein Reh liefe auf die Straße.
Sie war froh, als sie endlich die Zufahrt zu Andreas’ Haus erreichte.
Leider parkte sein Wagen nicht davor.
U m zwanzig Uhr erlosch die Leuchtreklame über der Tür und wenig später auch das Licht im Tattoo-Studio. Kurz darauf trat der Master of Dark Tattoo aus der Eingangstür. Er war allein. Seine Mitarbeiterin Caro war bereits um siebzehn Uhr gegangen. Mario verriegelte die Tür, dann sah er sich um. Ich sackte noch etwas tiefer in den Fahrersitz, behielt ihn aber im Auge. Er trug eine Armeehose in Tarnfarben und eine schwarze Jacke. Über seiner linken Schulter hing eine große schwarze Tasche. Sie schien schwer zu sein.
Mario setzte eine schwarze Wollmütze auf, schlug den Kragen seiner Jacke hoch, wandte sich nach rechts und lief den Bürgersteig entlang.
Ich richtete mich auf, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Seit zwei Stunden parkte ich auf dem kleinen Parkplatz eines Immobilienmaklers, der längst
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