Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Kincaids Gesicht gewichen.
»Was ich dir beizubringen versuche, ist, daß Kit dein Kind ist. Der genetische Stempel ist so unverkennbar wie ein Brandzeichen.«
Er machte den Mund zu und schluckte mühsam. »Aber das ist unmöglich ...«
»Bei Sex und seinen Folgen ist normalerweise nichts unmöglich, mein Liebling«, entgegnete Rosemary lächelnd. »Habe ich dir das mit den Bienen und den Blumen nie ordentlich erklärt?«
»Aber was ist mit Ian? Sicher hat er ...«
»Duncan, es ist eine einfache Rechenaufgabe. Der Junge ist elf. Du und Vic, ihr habt euch vor fast zwölf Jahren getrennt. Ich bin sicher, du wirst feststellen, daß er innerhalb von sechs oder acht Monaten nach eurer Trennung geboren wurde.« Rosemary sah Duncans verschleierten Blick und seufzte. »Ich schätze, Vic hatte keine Ahnung, daß sie schwanger war, als sie dich verlassen hat. Und ich schätze, du hast keine Ahnung, seit wann sie mit diesem - wie heißt er noch? - zusammen war.«
»Ian. Erst seit unserer Trennung - möchte ich gern glauben. Aber ich weiß es nicht.«
Rosemary lächelte. »Sagen wir also kurz danach. Aber die Wahrheit kam vermutlich erst Jahre später ans Licht - wenigstens, was Vic betrifft.«
»Ich glaub es nicht. Du denkst doch nicht, Vic hat die ganze Zeit über gewußt - ich meine, als sie mich angerufen und mich eingeladen hat ...« Er verstummte und hatte schwer an Rosemarys Eröffnung zu knabbern.
»Eugenia Potts muß die Erkenntnis wie ein Schlag getroffen haben. Vermutlich hat sie sich die Ähnlichkeit nie eingestanden, aber ich schätze, als sie dich und Kit zusammen gesehen hat, konnte sie es nicht länger verdrängen.«
»Kit ... Gütiger Himmel. Sie ist völlig durchgedreht, als sie mich neulich abends mit ihm in Vics Haus an traf.«
»Sie hat dich nie gemocht. Was ein Pluspunkt für dich ist - du hast dich ihr nie untergeordnet.«
Er schwieg lange, schob die Brösel auf der Tischdecke mit den Fingern von einer Seite zur anderen. Dann sah er zu ihr auf. »Warum ist es mir nicht aufgefallen, wenn es so verdammt offensichtlich ist?«
»Vermutlich weil wir ein sehr statisches Bild von uns selbst haben. Wir sehen uns nicht so, wie andere uns sehen. Aber wenn du ein Foto von dir in dem Alter neben eines von Kit hältst, siehst du es auch.«
»Und wenn du dich irrst? Es ist doch nur Spekulation ...«, fügte er lahm hinzu. Er griff nach dem letzten Strohhalm.
»Wer hat mir Weihnachten erzählt, wie wichtig die Intuition für einen guten Kriminalbeamten ist?« Als er ernst blieb, fuhr sie seufzend fort: »Liebling, ich täusche mich nicht. Und ich will nicht streiten. Unter anderen Umständen - wenn Vic noch leben würde, und sie, Kit und Ian eine glückliche Familie wären - hätte ich vermutlich nie ein Wort gesagt. Aber so wie die Dinge jetzt liegen ... Du kannst es dir nicht leisten, dir keine Gewißheit zu verschaffen.«
Cambridge 21. Juni 1964
Liebe Mrs. Brooke,
bitte verzeihen Sie diesen Brief, aber ich konnte mich nicht überwinden, Ihnen die Nachricht telefonisch zu übermitteln. Lydia liegt in der Klinik. Es geht ihr sehr schlecht, nach der Fehlgeburt in der vergangenen Nacht. Das Baby war ein Junge, und ich habe ihn nach meinem Vater Gabriel getauft. Morgen findet hier in der Krankenhauskapelle eine Trauerfeier statt.
Lydia ist geschwächt und hat Fieber, und ich kann sie nicht beruhigen. Sie scheint sich die Schuld an allem zu geben, nimmt es als Strafe Gottes und ist für kein vernünftiges Argument zugänglich.
Würden Sie bitte kommen? Vielleicht können Sie ihr da Trost geben, wo ich versage.
Morgan
Kincaid klingelte weit nach Einbruch der Dunkelheit an Gemmas Wohnungstür. Er hoffte inständig, daß sie zu Hause war und ihn sehen wollte, denn er hatte sie in Grantchester ohne Abschied einfach stehenlassen.
Später war er wie blind durchs Dorf gerannt und hatte den Fußweg zum Fluß eingeschlagen. Wie lange er so gelaufen war, daran konnte er sich nicht mehr erinnern. Schließlich jedoch war es kalt geworden, und seine Füße hatten in den Schuhen mit den dünnen Ledersohlen weh getan. Irgendwann, als die Sonne hinter den Dächern versank, war er wieder bei seinem Wagen in der High Street gelandet.
Er war nach London zurückgefahren. Sein Wunsch nach menschlicher Nähe war ebenso drängend geworden wie zuvor sein Bedürfnis, allein zu sein. Jetzt atmete er erleichtert auf, als er das Klicken des
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