Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
haben. »Diebische Elster.«
»Ich habe auch dein Notköfferchen aus dem Kofferraum mitgebracht«, sagte sie und deutete auf Toilettenbeutel und Kleidung zum Wechseln, die er stets für alle Fälle dabeihatte.
»Dann habe ich jetzt vermutlich keine Ausrede mehr, noch länger im Bett zu bleiben«, seufzte er resigniert. Das grünliche Licht des frühen Morgens ging allmählich in einen warmen Goldton über. Toby mußte bald aufwachen.
»Ich finde, wir sollten heute vormittag noch mit Daphne Morris sprechen«, verkündete Gemma wenige Minuten später, als Kincaid das Hemd in die Hose steckte.
»Gemma...«
»Keine Widerrede«, unterbrach sie ihn energisch. »Das ist Schnee von gestern.«
»Du bist unmöglich«, murmelte er. Er wußte, er hatte kapituliert, und fühlte sich trotzdem erleichtert.
»Gestern nacht hast du gesagt, Darcy Eliot hätte eine lesbische Beziehung zwischen Lydia und Daphne Morris angedeutet.« Sie pochte mit dem Finger auf das Manuskript. »Falls Vic einen Verdacht hatte, hat sie ihn mit keinem Wort erwähnt. Aber angenommen, sie ist erst kurz vor ihrem Tod darüber gestolpert? Die Direktorin einer Mädchenschule hätte viel zu Verlieren, wenn so was ruchbar würde.«
Kincaid band sich die Schuhe zu und sah auf. »Vic hat mit Daphne Morris gesprochen. Das steht in ihren Notizen. Und in diesem Gespräch hat Daphne Morris den Eindruck erweckt, Lydia kaum gekannt zu haben.«
Gemma wirkte skeptisch. »Das ist ganz offensichtlich nicht wahr ... allein Lydias Briefe beweisen das Gegenteil. Weißt du, welche Schule Daphne Morris leitet?«
»Nein, aber ich weiß ungefähr, wo sie liegt. Dürfte nicht schwierig sein, den Rest herauszubekommen. »Was, meinst du, machen Schuldirektorinnen samstags?«
Schuldirektorinnen, so stellte sich heraus, verbrachten ihre Wochenenden in Landhäusern, aber Daphne Morris war aufgehalten worden. Sie erwischten sie beim Packen. Eine hagere Frau mit Pockennarben und resolutem Beschützerinstinkt führte sie in das Wohnzimmer ihrer Privatwohnung. »Ich muß Sie bitten, sie nicht lange aufzuhalten, ja?« verlangte sie, als sie sich zum Gehen wandte. »Sie braucht am Wochenende jede Minute ...«
»Schon gut, Jeanette«, kam es amüsiert von Daphne Morris, die in Reithose und Stiefeln, das glänzende kupferrote Haar mit einem Tuch zurückgebunden, das Zimmer betrat. Sie sah aus wie aus einer Werbeanzeige für >Country Life<. »Ich verspreche dir, in einer Viertelstunde aus dem Haus zu sein.
Jeanette befürchtete, ich könne zum mordenden Monster werden, wenn ich übers Wochenende nicht ausspanne«, fuhr Daphne Morris fort und rollte die Augen. Sie kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu, zögerte und ließ den Arm sinken, als sie die frostigen Mienen ihrer Besucher sah. »Was ist? Habe ich was Falsches gesagt?«
»Ja wissen Sie es denn nicht?« fragte Gemma verblüfft.
»Tut mir leid«, erwiderte Daphne verunsichert. »Aber vielleicht hat Jeanette was falsch verstanden. Wer, sagten Sie, sind ' Sie?«
Kincaid stellte sich und Gemma vor und fügte hinzu: »Wir sind von Scotland Yard, Miß Morris. Wir möchten gern über Victoria McClellan mit Ihnen sprechen. Soviel wir wissen, ist sie wegen Lydia Brooke bei Ihnen gewesen.«
Daphne runzelte die Stirn. »Ja, das stimmt. Aber ich verstehe nicht, was das mit Ihnen zu tun hat.«
Kincaid warf Gemma einen Blick zu. Sie zuckte unmerklich die Schultern. Entweder hatte Daphne Morris keine Ahnung von Vics Tod oder sie war eine erstaunlich gute Schauspielerin. Das hatten sie nicht erwartet. »Miß Morris, dürfen wir uns setzen?«
»Oh!« entfuhr es ihr erschrocken. »Verzeihen Sie! Selbstverständlich.« Daphne deutete auf das Sofa vor dem Marmorkamin und nahm in einem kleinen goldenen Sessel Platz. Der Raum war hell, klassisch schlicht eingerichtet und eher steril und unpersönlich. Fotos, aufgeschlagene Bücher oder herum-liegende Zeitschriften gab es nicht. »Also, worum geht es eigentlich?« Sie strahlt natürliche Autorität und Eleganz aus, dachte Kincaid. Ein Hauch von Schuldirektorin war spürbar geworden.
»Victoria McClellan«, begann er und räusperte sich. »Dr. McClellan ...«
»Dr. McClellan ist Dienstag verstorben«, kam Gemma ihm gelassen zu Hilfe.
»Aber das ist ja schrecklich ...« Daphne sah überrascht von Gemma zu Kincaid. »Davon weiß ich ja gar nichts. Sie war doch noch so jung ...«
»Sie ist ermordet
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