Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
kurz darauf hörte sie den Schlüssel des Vaters in der Tür, die sie unverschlossen gelassen hatte.
Die Tür schwang auf. »Jo?«
Sie fand ihre Stimme wieder. »Ich bin hier, Dad.«
»Gut. Ich hätte schwören können, daß ich die Tür abgeschlossen habe. Hasse die Vorstellung, langsam zum alten vergeßlichen Trottel zu werden.« Er trat ins Wohnzimmer und hielt ihr die Wange zum Kuß hin. Er trug einen leichten grauen Sommeranzug, der sein silbergraues Haar betonte. William Hammond war Ende Sechzig und noch immer ein gutaussehender Mann. Seit Isabels Tod hatte er sich heftig gegen Übergriffe des »Witwenclubs«, wie Annabelle die Damenfront nannte, erwehren müssen.
Genannt hatte, erinnerte Jo sich. Sie schluckte. »Dad ...«
»Peter und Helen lassen grüßen. Wie ich sehe, hast du dir schon was zu trinken eingeschenkt. Schätze, ich leiste dir mit einem Gutenachttrunk Gesellschaft. Wollte nicht zuviel trinken und dann Auto fahren. Du weißt, wie scharf die Polizei heutzutage ...«
»Dad.« Jo berührte seinen Arm. Ihre Hand zitterte. »Ich möchte, daß du dich setzt.«
William betrachtete prüfend ihr Gesicht. »Ist mit dir alles in Ordnung, Jo?«
»Dad, bitte.« Sie sah, wie sich sein leicht besorgter Ausdruck in Angst verwandelte.
»Was gibt’s, Jo? Ist was mit den Kindern?«
»Denen geht’s gut. Es ist...«
»Ist es wegen Martin?«
»Dad, bitte.« Sie preßte die Hand gegen seine Brust und zwang ihn, einen Schritt zurückzutreten. Als seine Waden gegen die Sofakante stießen, mußte er sich unfreiwillig setzen. Jo ging vor ihm in die Knie. »Dad, es ist wegen Annabelle. Sie ist tot.«
»Was?« Er starrte sie verständnislos an.
»Annabelle ist tot.« Annabelle ist tot. Der Satz hallte in Jo wider wie ein Kinderreim.
William zog die Augenbrauen hoch. »Rede keinen Blödsinn, Jo. Was ist denn nur los mit dir?«
Jo ergriff die Hände des Vaters. Die Haut auf den Knöcheln fühlte sich wie Seide unter ihren Fingern an. »Die Polizei ist bei mir gewesen. Reg hatte sie als vermißt gemeldet, weil sie gestern nacht nicht nach Hause gekommen ist.«
»Die beiden hatten bestimmt nur einen harmlosen Streit...«
»Das habe ich auch gedacht, als er mich heute nachmittag anrief. Aber die Polizei hat sie gefunden. Tot. Ich weiß es. Ich habe sie gesehen.«
»Nein ...« Williams Gesichtsmuskeln erschlafften schlagartig wie Modelliermasse, die zu nah an eine Flamme gekommen war. Er schüttelte heftig den Kopf. »Das muß ein Irrtum sein, Jo. Annabelle kann nicht tot sein. Nicht Annabelle ...«
Nicht Annabelle. Niemals deine kostbare Annabelle.
»Daddy, es tut mir so leid.« Als sie die Hände des Vaters drückte, fühlte sie, wie die Ungeheuerlichkeit des Geschehens sie plötzlich zu überwältigen drohte. Annabelle war immer dagewesen, um geliebt oder gehaßt zu werden. Wie sollte sie nur ohne sie auskommen?
* 5
Die Isle of Dogs, der spätere Standort der West India Docks, war damals ein feuchtes, ödes Brachland, das man lediglich als Kuhweide nutzte. Angeblich hatte die Insel nur zwei Bewohner: den Kuhhirten, der das Vieh von den Marschwiesen trieb, und den Fährmann, der die Fähre nach Greenwich betrieb.
Theo Barker, aus: Docklands, ein illustrierter historischer Überblick
Als Kincaids Wecker schrillte, hatte er das Kissen über den Kopf gelegt. Um sechs Uhr morgens war es bereits hell, und die Luft, die durch das offene Fenster drang, roch frisch und rein. Das erleichterte ihm das Aufstehen zu dieser nachtschlafenen Zeit an einem Sonntag morgen. Die Obduktion von Annabelle Hammond war auf acht Uhr angesetzt, und er hatte mit Gemma verabredet, sich mit ihr im Yard zu treffen und gemeinsam mit ihr zum Leichenschauhaus zu fahren.
Obwohl er sich hastig und leise duschte und rasierte, begann Kit sich zu regen und schlug schließlich die Augen auf, als er auf Zehenspitzen durchs Wohnzimmer zur Tür schlich.
»Wieviel Uhr ist es?« fragte Kit schläfrig und stützte sich auf einen Ellbogen auf. »Bist du gerade nach Hause gekommen?«
»Es ist halb sieben Uhr morgens. Und ich bin schon seit gestern abend zu Hause, aber ich muß wieder weg.« Kincaid bückte sich, um Sid zu streicheln, der Kit verlassen hatte und aufdringlich um seine Beine strich und schnurrte. »Ich wollte dir eine Nachricht hinterlassen.«
Kit warf die Decke zurück und setzte sich auf. »Kann ich
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