Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
jedoch nicht. »Und du kannst dir vorstellen, wie Toby nach einem Tag bei Cyn gewesen ist. Er hat sich vehement geweigert, ins Bett zu gehen, nur um dann von einer Sekunde zur anderen wie ohnmächtig einzuschlafen.« Sie berührte die weiche Strickwolle in Hazels Handarbeitskorb. »Was dagegen, wenn ich kurz ins Wohnzimmer gehe?«
Tim sah von seiner Zeitung auf und lächelte. »Überhaupt nicht.«
Sie schlenderte ins Wohnzimmer, wie magnetisch angezogen vom Klavier. Sie schlug den Deckel zurück, ließ die Finger leicht über die Tasten gleiten, nur um ein Gefühl dafür zu bekommen, spielte wahllos ein paar Noten und hörte auf die Töne, die erklangen und erstarben. Sie konnte sich nicht vorstellen, je in der Lage zu sein, die Töne so zu spielen, daß sie eine Melodie ergaben ... Seit ihrem Gespräch mit Wendy Sheinart hatte sie versucht herauszufinden, warum sie diesen unbändigen Wunsch verspürte, Klavierspielen zu können.
Im vergangenen Herbst hatten sie einen Fall bearbeitet, der ihr ganz unerwartet die Welt der Oper erschlossen hatte, und sie hatte eine unglaubliche Faszination verspürt... und seit sie in die Garagenwohnung gezogen war, hatte Hazels umfangreiche CD-Sammlung es ihr ermöglicht, alles zu hören - vom Klavierkonzert bis zu Modern Jazz -, und im Frühjahr war der Straßenmusikant mit der Klarinette aufgetaucht, der sie in seinen Bann gezogen hatte, wann immer sie Sainsbury’s auf dem Heimweg passiert hatte. Ein seltsamer Zufall, dachte sie flüchtig, daß Reg Mortimer einen Musiker mit Klarinette beschrieben hatte, aber sicher steckte nichts dahinter. Als Wendy Sheinart sie gefragt hatte, weshalb sie Klavier spielen wolle, hatte diese schließlich ihren stotternden Versuch einer Erklärung mit einem Lächeln akzeptiert. »Sie müssen es nicht verstehen«, hatte sie gesagt. »Ich glaube, das Bedürfnis, Musik zu machen, ist einigen von uns angeboren. Äußere Umstände oder Erfahrung haben damit nichts zu tun. Und es ist auch gleichgültig. Ich wollte nur sicher sein, daß Sie das für sich allein tun.«
»Wir sind da.« Kincaid berührte ihren Arm, und Gemma stellte entsetzt fest, daß sie am Eingang des Leichenschauhauses vorbeigegangen wäre. Er warf ihr einen fragenden Blick zu. »Weshalb habe ich nur das Gefühl, daß du heute morgen Lichtjahre weit weg bist?«
Gemma lächelte und drückte auf den Klingelknopf, »’tschul-digung. War in Gedanken versunken.«
»Dann bin ich neidisch auf die Gedanken.«
Die Tür klappte zurück, und sie wiesen sich gegenüber der jungen Frau mit Pferdeschwanz aus.
»Dr. Ling erwartet Sie schon«, sagte sie und scheuchte sie hastig weiter.
Kincaid runzelte die Stirn. »Dr. Ling? Meinen Sie zufällig Kate Ling?«
»Höchstpersönlich«, sagte eine Frau im weißen Arztkittel, die aus dem Obduktionssaal trat. Dunkles, glattes Haar rahmte ihr blasses, ovales Gesicht ein und reichte knapp bis auf die Schultern. Die schwarzen Augen der Pathologin glitzerten mit jenem spitzbübischen Humor, an den Gemma sich so gut erinnerte. Sie hatten im vergangenen Herbst in Surrey mit ihr zusammengearbeitet. Damals war es um den Tod eines Freundes von Gemma und die fast tödliche Verletzung eines anderen gegangen. Die Erinnerung daran überkam Gemma mit schmerzlicher Heftigkeit und machte sie vorübergehend sprachlos. Kincaid sprang in die Bresche.
»Was machen Sie in London?« fragte er und schüttelte Kate Ling herzlich die Hand.
»Ist eine Art Beförderung«, antwortete Kate. »Im Innenministerium wurde eine Stelle frei, die besetzt werden mußte, und ich habe den kürzeren gezogen. Kann allerdings nicht behaupten, daß es mich stört, so im Rampenlicht zu stehen. Außerdem ist meine Klientel hübsch abwechslungsreich.« Sie nickte in Richtung der Tür in ihrem Rücken. »Hübsches Frischfleisch, da drinnen. Kam gerade aus dem Eis. Dürfte nicht zu abschreckend für euch sein. Seid ihr bereit?«
Sie folgten ihr in den Obduktionssaal. Auf dem Weg zogen sie sich OP-Kleidung und Mundschutz an. Kate legte ebenfalls ihren Mundschutz an und schob den Instrumentenwagen zum Obduktionstisch. Konnte man Tote überhaupt beneiden, schoß es Gemma durch den Kopf, als sie auf Annabelle Hammond herabsah. Die Brüste waren perfekt, weder zu groß, noch zu klein; der Hals schlank, die Schultern schön geformt; die Taille schmal, der Bauch flach; die Oberschenkel glatt und schlank. Selbst Füße und Fußgelenke waren zierlich
Weitere Kostenlose Bücher