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Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen

Titel: Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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Eltern zur Aufgabe gemacht, die Lücke in seinem Leben zu füllen, und sich damit nur zum Hauptziel seiner Aggressionen gemacht. Je mehr er bockte, desto heftiger drängten sie ihn. Vic war die undankbare und immer schwieriger werdende Aufgabe zugefallen, Schiedsrichter bei dieser Kraftprobe zu spielen. Heute hatten sie Kit in London vom Zug abgeholt, fest entschlossen, mit ihm ins British Museum zu gehen, während Kit sich darauf versteift hatte, daß sie mit ihm die Videotheken am Piccadilly Circus ansahen.
      Natürlich war er mürrisch und enttäuscht nach Hause gekommen. Vic hatte von vornherein gewußt, daß seine Wünsche nicht die Spur einer Chance gegen die rigide Tagesplanung ihrer Mutter haben würden. Trotzdem hatte sie ihn überredet, zu den Großeltern nach London zu fahren. Für eine Begegnung zwischen Kit und Duncan war sie noch nicht bereit gewesen. Nicht, solange sie nicht sicher gewesen war, daß Duncan sich in den wesentlichen Dingen nicht verändert hatte.
      Sie wandte sich nach Norden, wo Nathans Cottage außer Sichtweite direkt hinter der Straßenbiegung lag. Sie hatte ihn anrufen wollen, gehofft, sich auf ein Glas Wein vor seinem offenen Kamin für eine halbe Stunde aus dem Haus schleichen zu können. Aber Kit hatte sie gebraucht, und ihre Schuldgefühle hatten verlangt, daß sie den Abend mit ihm vor einem schrecklichen, aber sehnlichst gewünschten Actionfilm verbrachte.
      Jetzt war es zu spät, Nathan anzurufen. Sie fühlte sich rastlos und aufgewühlt. An den dringend benötigten Schlaf war nicht zu denken. Sie hätte sowieso nur wach im Bett gelegen und über ihre Unterhaltung mit Duncan nachgedacht. Hatte sie zuviel gesagt? Hatte sie genug gesagt? Hatte er sie ernst genommen oder sie nur einfach reden lassen?
      Sie schloß für einen Moment die Augen, überließ sich ganz der Dunkelheit und ging dann abrupt ins Haus zurück. Sie mußte etwas übersehen haben, etwas Entscheidendes, das sie ihm als Beweis nennen konnte. Sie tastete sich den dunklen Korridor entlang, schlich in ihr Arbeitszimmer und starrte auf das Durcheinander von Papieren im Schein ihrer Schreibtischlampe. Sie mußte noch einmal anfangen, und zwar ganz von vorn.
     
    Newnham 7. Oktober 1961 Liebste Mutter,
      wie sehr wünschte ich, Du wärst hier. Alles ist, wie wir es erträumt, und doch ganz anders, als wir es uns eigentlich vorgestellt hatten. Newnham ist kein bißchen kalt und unnahbar; der rote Backsteinbau mit den weißen Holzverzierungen ist anheimelnd, und ich habe das schönste Zimmer, ein Eckzimmer mit Blick auf die Gärten. Sobald ich meine Drucke an die Wände gehängt und meine Habseligkeiten ausgepackt habe, werde ich in meinem Sessel vor dem Gasofen sitzen und lesen, lesen, lesen ... Heute habe ich mit dem Dekan meiner Fakultät gesprochen. Es ist Dr. Barrett. Ich glaube, wir kommen gut miteinander aus. Schwierig ist nur zu entscheiden, welche Vorlesungen ich hören und welche Scheine ich dieses Semester machen will. Ich fühle mich wie das Kind im Süßwarenladen - überwältigt von den Möglichkeiten.
      Bis jetzt scheinen die anderen Mädchen trotz anfänglicher Zurückhaltung ganz nett zu sein. Mit Daphne, einer großen Rothaarigen vom Zimmer gegenüber, kann ich mich, glaube ich, anfreunden. Sie ist wie ich aus einem kleinen Dorf auf dem Land. Aus Kent. Damit haben wir schon eine Gemeinsamkeit.
      Gestern abend bin ich zum ersten Mal beim Evensong im King’s College gewesen. Es war toll! Diese Stimmen ... ich war wie in Trance. Ich saß neben einem Jungen vom Trinity College. Er wirkte sehr ernsthaft und hat mich für Donnerstag zu einer Lesung in seinem Zimmer eingeladen. Wie du siehst, habe ich bereits gesellschaftliche •Kontakte. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen.
      Wenn Sonntag das Wetter schön ist, will ich am Fluß entlang nach Grantchester wandern. Dann tu ich so, als sei ich Virginia Woolfauf dem Weg zu Rupert Brooke. Wir trinken dann Tee im Garten der Old Vicarage und diskutieren über wichtige Dinge: über Poesie und Philosophie und das Leben.
      Liebste Mutter, ich habe mich noch gar nicht richtig bedankt. Du hast mich zur Arbeit angetrieben, wenn ich müde und übellaunig war; Du hast mich ermutigt, wenn ich einen Rückschlag nicht verwinden konnte. Wären deine Weitsicht und Entschlossenheit nicht gewesen, wäre ich vermutlich hinter der Ladentheke einer Apotheke anstatt hier an diesem herrlichen Ort gelandet. In ein paar Tagen schreibe ich Dir meinen

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