Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
sie und rieb die Stoffe zwischen den Fingern.
Kincaid warf einen Blick in das angrenzende Badezimmer. Die Handtücher hingen über der Heizung, ein seidener Morgenmantel baumelte an einem Haken an der Tür. »Man hat fast das Gefühl, als habe sie ständig hinter sich aufgeräumt. Keine Spur von normalem Leben.«
Als nächstes öffneten sie die mittlere Tür im Flur. Dahinter lag ein kleines Büro mit einem eingebauten Schreibtisch, Aktenschränken und einem Arbeitsbereich. Auf dem Schreibtisch stand ein Drucker, daneben befand sich eine Telefonleitung und ein Modem. »Offenbar hat sie ihren Computer im Büro gelassen«, sagte Kincaid und öffnete auf der Suche nach irgend etwas Aufschlußreicherem sämtliche Schubladen.
»Schau dir das mal an.« Gemma stand vor dem Pinboard aus Kork an der Wand. »Sieht fast so aus, als habe Annabelle doch ein Privatleben gehabt.« Vorsichtig zog sie Zettel beiseite und tauschte Pins aus.
Darunter kamen Fotos zum Vorschein, auf denen Kincaid vorrangig Jo Lowell und deren Kinder erkannte. Auf einem Bild saß Annabelle in einem Garten, ein rothaariges Kleinkind auf dem Schoß. Ein älteres Paar stand neben ihr. Der Mann war groß und hatte silbergraues Haar, die Frau war eine verblichene Schönheit, die einst Annabelle ebenbürtig gewesen sein mochte. »Ihre Eltern?« vermutete Kincaid und berührte leicht das Foto. »Mit ihrem Neffen Harry?«
»Die Taufeinladung hängt auch hier«, sagte Gemma. »Aber da ist was Komisches. Sieh dir das doch an. Es gibt einige Bilder von der kleinen Sarah als Baby, dann nichts mehr. Sieht so aus, als sei Annabelle eine liebende Tante gewesen. Trotzdem existieren keine Fotos neueren Datums von den Kindern.«
Kincaid prüfte vorsichtig den Inhalt der Pinwand. Er entdeckte Glückwunschkarten und Speisekarten von Restaurants, Geschenkbänder, eine getrocknete Rose, die Postkarte mit einem Rossetti-Engel, der eine erstaunliche Ähnlichkeit mit Annabelle aufwies, und das Programm von einer Musikveranstaltung in Island Gardens. Er sah flüchtig ein rothaariges Kind, doch bei näherer Prüfung zeigte das Foto Alterungserscheinungen. Das Rind war Annabelle selbst, da war er sicher, eine sonnengebräunte kleine Göre mit einer rotgoldenen Haarmähne und einem herzerweichenden Lächeln. Zu ihrer Rechten stand ein hagerer Junge mit dem unverkennbar treuherzigen Lächeln von Reg Mortimer; auf der Linken blickte Jo Lowell düster in die Kamera. »Die drei Musketiere, so scheint es«, bemerkte er leise. Aber Gemma hatte recht. In den letzten Jahren schienen die Nichte und der Neffe in Annabelles Leben keinen Platz mehr gehabt zu haben.
»Sieh dir das an.« Gemma reichte ihm ein seitenfüllendes Foto aus dem Tatler. Es zeigte Reg und Annabelle in spektakulärer Abendkleidung. Untergehakt lächelten beide in die Kamera. »Das Bilderbuchpaar der Society.«
Er sah Gemma an. »He, was ist, Liebling? Du bist doch wohl nicht neidisch, oder?«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie kommt mir nur so lebendig ... und vor allem ... sogar charmant vor. Wie hat es nur jemand fertiggebracht, diese Schönheit einfach auszulöschen?«
»Vielleicht wurde sie getötet, weil sie so schön war und nicht >obwohl<«, vermutete Kincaid. »Solche Schönheit kann gefährliche Eifersucht wecken.«
»Reg Mortimer scheint mir nicht der Typ für haltlose Eifersuchtsanfälle zu sein. Aber möglich ist alles.« Gemma trat an den Tisch und streckte die Hand nach dem Anrufbeantworter neben dem Telefon aus. »Mal sehen, ob Mortimer wirklich so oft angerufen hat, wie er behauptet hat.« Sie drückte auf den Play-Knopf, und nach einem Moment hörten sie Mortimers Stimme.
»Annabelle, ich bin’s, Reg. Ich bin im Ferry House.« Es folgte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Komm doch ... bitte!« Ein Piepton beendete die Nachricht. Ihm folgte ein weiterer Piepton zu Beginn der nächsten Meldung: »Also gut. Ich habe Strafe verdient. Aber jetzt habe ich genug gelitten, findest du nicht? Ich entschuldige mich auf Knien.«
Danach kamen noch zwei weitere Anrufe ohne hinterlassene Nachrichten. »Wieder Mortimer?« überlegte Kincaid, doch bevor Gemma antworten konnte, begann die nächste Nachricht.
»Annabelle? Wo bist du? Ruf mich zu Hause an!« Es war eine Männerstimme, die tiefer und autoritärer klang als die von Mortimer. Es folgte der nächste Piepton und dieselbe Stimme sagte: »Annabelle, wo, zum Teufel, bist du? Hier spricht Lewis. Ruf
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