Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
vorgestellt hatte. »Kommen Sie mit nach hinten. Ich wasch mir nur schnell die Hände.«
Gemma sah sich bewundernd um, als die Dame des Hauses sie in einen Wintergarten führte, dessen große Glastüren auf eine Terrasse und einen schattigen Garten führten. »Das ist ja bezaubernd hier.«
»Ist das kühlste Zimmer im Haus. Ich koche uns nur eine Tasse Tee ... Bin gleich wieder da.«
Auf einem Rattansofa lag ein riesiger Kater auf dem Rücken, alle vier Pfoten in die Luft gestreckt. Er schlug die Augen auf, blinzelte Gemma an und reckte sich lässig. Sie hatten sich soweit bekannt gemacht, daß Gemma ihm den Bauch kraulte, als Rachel Pargeter mit dem Teetablett zurückkam.
»Mach Platz, Francis, du Riesenvieh«, befahl sie liebevoll. Und zu Gemma gewandt, fügte sie hinzu: »Schmeißen Sie ihn einfach runter. Er ist höchstens dreißig Sekunden beleidigt ... der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses kann ein Segen sein.«
Als Gemma den Kater sanft beiseite geschoben und einen Becher Tee entgegengenommen hatte, setzte sich Rachel Pargeter in einen Rattanschaukelstuhl neben sie und musterte sie aufmerksam. »Ich schätze, Sie kommen wegen Annabelle Hammond?«
»Soviel ich gehört habe, sind Sie eine alte Freundin der Familie.«
»Oh, seit ewigen Zeiten, ja«, sagte Rachel. »Isabel hat sich mit mir angefreundet, als wir vor dreißig Jahren hierhergezogen sind. War ein schwerer Schlag ... als Isabel starb. Und jetzt das.« Sie trank einen Schluck von dem Tee, der Gemma noch viel zu heiß war. »Annabelle hat mir immer irgendwie leid getan. Aber ich hätte nie gedacht, daß es so weit kommen würde.«
»Annabelle hat Ihnen leid getan?«
»Ich war von jeher der Meinung, daß außergewöhnliche Schönheit ein ebensolcher Fluch sein kann wie körperliche Defekte ... wenn nicht noch schlimmer. Es ist so schwierig für einen schönen Menschen, ob Mann oder Frau, einen guten Charakter zu entwickeln, finden Sie nicht? Spricht schließlich von Anfang an alles gegen sie.«
Gemma runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
»Schöne Menschen müssen sich nie Aufmerksamkeit oder Zuneigung der anderen durch ihr Verhalten verdienen. Im Gegenteil. Sie nehmen es als etwas, das ihnen selbstverständlich zusteht. Und man verzeiht ihnen fast alles, einfach nur wegen ihres Aussehens. Annabelle hatte noch das Glück, daß ihre Mutter verhindert hat, daß sie komplett verwöhnt wurde.«
Francis wählte diesen Augenblick, um auf Rachels Schoß zu springen. Die Dame des Hauses vermied es geschickt, ihren Tee zu verschütten, streichelte die Katze und fuhr fort: »Die andere tragische Komponente ist meiner Meinung nach, daß schöne Menschen so selten das sichere Bewußtsein genießen können, daß sie um ihrer selbst willen geliebt werden ... dafür geliebt werden, wie sie wirklich sind. Aber Isabel hat ihre Tochter trotz und nicht wegen ihrer Schönheit geliebt. Und sie war geradezu fanatisch gerecht mit den Kindern.« Sie seufzte. »Und William hat sie auf eine harte Probe gestellt, aber sie hat sich nie beklagt.«
»Auf eine harte Probe? Inwiefern?«
»Annabelle war das Kind seiner Träume ... ein wunderschönes Mädchen, das im Lauf der Zeit eine Leidenschaft für alles, was mit Tee zusammenhing, entwickelte, die seine Hingabe an die Firma noch überstieg.«
»Also hat er sie furchtbar verwöhnt?«
»O ja. Und er hat ihr die Last auferlegt, perfekt sein zu müssen. Damit zu leben, ist verdammt schwer. Kein Wunder, daß Annabelle völlig aus dem Gleichgewicht geraten ist, als ihre Mutter starb.«
»Sie haben von Annabelle und Martin Lowell gewußt?«
»Leider«, antwortete Rachel und nickte traurig. »Jo hat sich mir anvertraut. Die Arme hatte niemanden, mit dem sie hätte reden können ... Ihrem Vater konnte sie auf keinen Fall sagen, was seine heißgeliebte Annabelle getan hatte.« Sie warf Gemma einen kurzen Blick zu. »Vermutlich mißbrauche ich Jos Vertrauen, indem ich es Ihnen erzähle. Aber die ganze Geschichte belastet mich sehr ...«
»Jo hat es uns bereits selbst gesagt. Sie enttäuschen sie also keineswegs«, versicherte Gemma ihr. »Was ich nicht verstehe, ist, wie die beiden überhaupt je auf Martin Lowell reinfallen konnten.«
Rachel Pargeter lächelte. »Ich schätze, Sie haben Martin Lowell noch nicht in Bestform erlebt. Er kann außerordentlich charmant sein. Sogar ich war ihm verfallen - damals am Anfang ihrer Ehe -, als er
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