Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
ist frei erfunden. Das garantiere ich dir.«
»Du solltest die Rivalität unter Geschwistern nicht unterschätzen. Jo war unsicher, weil sie die erste Einladung als alleinstehende Frau gegeben hat. Durchaus möglich, daß sie sich zu einem Flirt mit dem Freund der Schwester hat hinreißen lassen. Und wenn es so gewesen ist, würde sie das unter diesen Umständen nie freiwillig zugeben. Peinliche Geschichte. Und ein guter Grund für einen handfesten Krach mit ihrer Schwester«, fügte Kincaid hinzu und versuchte, sich die Szene vorzustellen.
»Was sie natürlich ebenfalls nicht zugeben würde. Aber das ist auch keine Antwort auf die Frage, was passiert ist, nachdem Annabelle und Reg die Party verlassen hatten.«
Sie hatten die Spitze der Isle of Dogs erreicht. Kincaid bog in den Aspen Way nach rechts ein, der in vielen Kurven wieder in Richtung Süden und zum Blackwell Tunnel führte.
Als sie in den Tunnel fuhren, blies ein kühleres Lüftchen in den Wagen. Gemma lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und schloß die Augen.
Kincaid warf einen Blick auf sie. »Wolltest du Mortimer eigentlich reizen, als du ihm gesagt hast, daß Gordon Finch ein guter Musiker ist?«
Einen Moment antwortete Gemma nicht. Dann sah sie auf und bedachte ihn mit einem Blick, den er nicht deuten konnte. »Nicht unbedingt. Er hat gerade geübt, als ich gestern zu ihm in die Wohnung gekommen bin. Aber ich hatte ihn schon vorher gehört. In Islington.«
»In Islington?« wiederholte er überrascht. »Wann?«
Sie zuckte die Schultern. »Ist ein paar Monate her. Aber ich weiß erst seit gestern sicher, daß er’s tatsächlich gewesen ist.«
»Gordon Finch ist kaum der Typ, den man leicht vergißt«, bemerkte Kincaid, als der Verkehr plötzlich mitten im Tunnel zum Erliegen kam. Obwohl er aus Erfahrung wußte, daß er selten beurteilen konnte, was andere Männer für Frauen attraktiv machte, hatte er sofort gespürt, daß Finch eine gewisse magische Anziehungskraft besaß. Und wenn der Mann auf Annabelle gewirkt hatte ... »Der starke, schweigsame Typ, was?«
»Wer? Finch?«
»Oder sollte es sein Hund gewesen sein, der dich so beeindruckt hat?«
»An den Hund habe ich mich übrigens gleich erinnert«, erwiderte Gemma gelassen. »Als ich die beiden gestern zusammen gesehen habe, war ich meiner Sache endgültig sicher.« Sie lächelte, betrachtete ihre Fingerspitzen, und er fragte sich, wer da wem etwas vorzumachen versuchte.
Die restliche Fahrt nach Greenwich verlief schweigend. Trotzdem wurde Kincaid das Gefühl nicht los, daß Gemma etwas vor ihm verbarg.
Jo Lowell öffnete die Tür, noch bevor Kincaid den Finger vom Klingelknopf genommen hatte. Der Anblick der beiden Kriminalbeamten war für sie offensichtlich eine Enttäuschung. »Ich wollte gerade ausgehen. Ich habe einen Termin bei einem Kunden und bin spät dran. Die Kinder waren heute morgen eine Katastrophe ...« Sie hielt inne. »Na, egal. Was kann ich für Sie tun?«
Sie trug eine elegante Hose und eine weiße Seidenbluse. Ein Hauch von Make-up überdeckte ihre Sommersprossen, ihr kastanienbraunes Haar war mit einer goldenen Spange im Nacken zusammengefaßt, und sie hatte schlichte Topas-Ohrringe angelegt. Zum ersten Mal fiel Kincaid auf, wie attraktiv sie aussehen konnte.
»Dauert nur eine Minute«, begann er entschuldigend. Sie trat zurück und bat sie ins Haus.
»Ist es in Ordnung, wenn wir gleich hier bleiben?« fragte sie und deutete auf das Eßzimmer.
Die Vase mit Sonnenblumen stand noch auf dem Tisch. Als sie sich setzten, dachte Kincaid an Annabelle und daran, wie sie hier gesessen und vielleicht über die Bemerkung eines anderen gelacht hatte.
»Kommen wir gleich zur Sache, Mrs. Lowell. Wir hatten gerade ein Gespräch mit Reg Mortimer. Er gibt zu, daß er und Annabelle Streit hatten.«
Bildete er sich das flüchtige, angespannte Zucken umjo Lo-wells Mundwinkel nur ein? »Sind Sie sicher, daß Ihre Schwester Ihnen nicht erzählt hat, worum es bei dem Streit ging?«
»Nein ... Ich ... Was hat Reg gesagt?«
»Daß Annabelle wütend war, weil Sie mit ihm geflirtet hätten.«
Einen Moment starrte Jo sie mit offenem Mund an. Dann lachte sie laut auf. »Reg hat gesagt, ich hätte mit ihm geflirtet?«
»Sind Sie anderer Meinung?« erkundigte sich Kincaid.
»Der träumt wohl!« Jo kicherte beinahe hysterisch. »Wenn Sie wüßten, wie oft ich mich mit ihm als Kind
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