Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
und Colin zu überreden, ihn allein zu lassen und nach Cambridge zum Einkaufen zu fahren.
Es war die Hundesendung im Fernsehen vom Vorabend gewesen, die ihn auf die Idee gebracht hatte, in der es die üblichen Schönheitskonkurrenzen der einzelnen Rassen gegeben hatte, die er aufmerksam auf der Suche nach Hunden verfolgte, die Tess ähnlich waren. Als er die Norfolk-Terrier mit ihrem struppigen, braunen Fell und den klaren, schwarzen Augen gesehen hatte, war er sicher gewesen, daß einer von ihnen irgendwo in Tess’ Ahnenreihe zu finden sein würde.
Darüber hinaus hatte es Wettbewerbe in Geschicklichkeit und Gehorsamsübungen gegeben, an denen alle Hunde, ob mit oder ohne Stammbaum, teilnehmen konnten. Fasziniert hatten ihn vor allem die Hindernisparcours. Und die Idee, daß Tess den fehlenden Stammbaum in diesen Wettbewerben ausgleichen konnte, hatte in ihm einen geradezu missionarischen Eifer entfacht. Tess war so klug wie jeder andere Hund - wenn nicht klüger -, und damit hatte sich ihm eine Möglichkeit eröffnet zu beweisen, über welch besondere Fähigkeiten sie verfügte.
Die Hindernisse, die übersprungen werden mußten, hatte er aus den Feuerholzresten des vergangenen Jahres in der für Tess angemessenen Höhe konstruiert. Dann hatte er aus einem Stück Sperrholz und Milchkisten aus der Garage eine Rampe gebaut. Auch alte Reifenfelgen fanden bei ihm neue Verwendung. Das einzige, nicht gelöste Problem war der Tennisball-spender am Ende des Parcours. Die Idee war, daß Tess den Parcours durchlaufen, den Ball aus dem Spender nehmen und dann zu ihm an den Start zurückbringen sollte.
Zuerst war Tess aufgeregt hinter ihm her gesprungen und hatte nach dem Ende der Leine geschnappt, die aus seiner Hosentasche hing. Als sie jedoch realisiert hatte, daß er weder einen Spaziergang noch ein Spiel im Sinn hatte, hatte sie sich auf ein schattiges Plätzchen unter der Eiche zurückgezogen. Dort lag sie mit dem Kopf auf den Vorderpfoten und wedelte gelegentlich mit dem Schwanz, während sie mit den Augen jede seiner Bewegungen verfolgte.
Kit rekapitulierte in leisem Singsang jede seiner Aufgaben, während er arbeitete. Obwohl diese Monologe an Tess gerichtet waren, halfen sie ihm, ihn vom Nachdenken abzuhalten, und nachzudenken war etwas, das er die vergangenen Tage so gut es ging vermieden hatte.
Seit er sich am Vortag geweigert hatte, mit Duncan am Telefon zu sprechen, hatte Laura ihn mit offensichtlicher Sorge beobachtet, jedoch keine Fragen gestellt. Er hatte selbst Colin bei diesem komischen, besorgten Blick ertappt. Außerdem war er netter zu ihm als sonst, was noch schlimmer war. Er wollte auch mit Colin nicht sprechen ... wollte mit niemandem darüber reden, was passiert war, und ganz besonders nicht mit Duncan.
Trotzdem hatte er häufig das Foto mit den Eselsohren von Duncan in Pfadfinderuniform aus der Tasche gezogen. Es war etwas, das er nicht verhindern konnte, und selbst als er letzte Hand an den Knüppelsprung legte, glitten seine Finger gerade weit genug in die Tasche, daß er die Kante des Fotos fühlen und sich vergewissern konnte, es nicht verloren zu haben. Das Bild hatte sich ihm so deutlich eingeprägt, daß er es eigentlich gar nicht mehr betrachten mußte. Es löste ein merkwürdiges Gefühl bei ihm aus, so als sähe er in einen etwas stumpfen Spiegel, der sein Haar eine Nuance dunkler, die Augen etwas grauer und die Nase ein wenig runder erscheinen ließ.
Doch das war nicht das Bild, das er sehen wollte. Am Vorabend, nachdem Cohn eingeschlafen war, hatte er sich ins Badezimmer eingeschlossen, hatte sein Gesicht prüfend im Spiegel betrachtet und versucht, darin die Ähnlichkeit mit seiner Mutter zu entdecken, von der die Leute dauernd redeten.
Er schüttelte plötzlich heftig den Kopf, verdrängte die Gedanken und kniete neben Tess nieder. »Komm schon, Mädchen«, sagte er, zog die Hundeleine aus der Tasche und klickte den Karabiner ins Halsband'. »Versuchen wir’s mal.« Er überprüfte seine Vorräte an Hundeleckereien, gab ihr einen Keks für gutes Betragen, trottete mit ihr zum Start des Parcours und schnalzte aufmunternd mit der Zunge. Als sie sich dem ersten Sprung näherten, lief er schneller und drängte: »Komm schon, Mädchen. Du kannst es. Spring!«
Tess ließ sich vor dem Hindernis abrupt auf ihrem Hinterteil nieder, neigte den Kopf zur Seite und starrte ihn an, als sei er komplett verrückt geworden. Der Ausdruck in ihrem Gesicht
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