Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
hatte mittlerweile zu spielen aufgehört, doch jetzt begann die Musik erneut. Zuerst war es ein Beat, dann nahm die Klarinette die Melodie in melancholischem Moll als Solo auf. Gordon streckte den Arm aus, ergriff Gemmas Hand und zog sie auf die Beine.
»Was ...«, begann sie, doch er hatte bereits eine Hand auf ihren Rücken gelegt und schob sie energisch.
»Hat man Ihnen auf der Polizeischule etwa nicht das Tanzen beigebracht?« sagte er dicht an ihrem Ohr.
»Natürlich nicht. Das ist...« Sie hatte »absurd« sagen wollen, doch das Gras fühlte sich kühl und prickelnd unter ihren bloßen Sohlen an, und der Druck seiner Hand auf ihrem Rücken und der Rhythmus der Melodie erschienen ihr plötzlich unwiderstehlich. »Was ist das für eine Nummer?« fragte sie, und wehrte sich gegen die Versuchung, die Augen zu schließen. »Kommt mir so bekannt vor. Aber ich kann nicht ganz ...«
»Rogers und Hart.« Er zog sie etwas näher an sich und summte die Melodie mit. »Where or When heißt der Titel«, fügte er amüsiert hinzu.
Eine leichte Brise fuhr durch Gemmas Haar, und für einen Moment hatte sie das Gefühl zu schweben, schwerelos zwischen der Musik und seiner Berührung zu verharren. »Ich hätte Sie nie für einen Tänzer gehalten«, flüsterte sie.
»Mein heimlicher Ehrgeiz war, wie Gene Kelly zu sein ...«
Sie fühlte seinen Atem an ihrem Hals, dann war sie sich nur noch der Musik und der Harmonie ihrer Bewegungen bewußt.
Das letzte Aufbäumen der Klarinette erwischte sie mitten in einer Schrittkombination. Sie hielten verlegen inne, die Hände noch immer ineinander verschlungen. Gemma fühlte, wie ihr Herz bis zum Hals schlug, dann wurde sie rot.
Sie trat zurück, entzog ihm ihre Hand. Donner grollte in der Ferne, als sie hastig ihre Schuhe anzog und nach ihrer Handtasche griff, die noch im Gras lag. »Ich muß gehen«, sagte sie, wandte sich ab und ging, ohne einen Blick zurück zu werfen, davon.
Es wurde Weihnachten, bevor Lewis zu Besuch auf das »Island« zurückkehrte. Seit Monaten strömten Evakuierte nach London zurück, aber die Londoner Schulen waren zu Beginn der Evakuierung geschlossen worden, und so hatten die zurückkehrenden Kinder keine Schule, in die sie hätten gehen können. Die Regierung hatte bislang auf die Forderungen, die Schulen wieder zu eröffnen, nicht reagiert... die Lehrer waren mit ihren Schützlingen aufs Land geflohen, und viele der Schulgebäude waren für den Zivilschutz requiriert worden.
»Ich will nicht, daß du dich auf der Straße rumtreibst, nicht, solange du eine Chance auf eine anständige Schulerziehung hast«, hatte seine Mutter energisch erklärt. Doch obwohl die Regierung eine Publicity-Kampagne zu Weihnachten lanciert hatte, die Kinder von London fernzuhalten - Sicherheit und Geborgenheit für unsere Kinder -, hatte sie schließlich Lewis’ Bitten nachgegeben, die Ferien zu Hause verbringen zu dürfen.
Während der Monate auf dem Land war Lewis vom Krieg fast unberührt geblieben. Seit der Benzinrationierung im vergangenen September waren Edwinas Autos öfter poliert denn gefahren worden, doch zu Lewis’ Vergnügen hatte John angefangen, Lewis beizubringen, wie man die Fahrzeuge instand hielt. Gartenarbeit war weniger nach seinem Geschmack, doch William und er hatten geholfen, hinter der Küche des Anwesens einen Garten mit Wintergemüse einzurichten. Edwina hatte zwei Jersey-Kühe von einem benachbarten Farmer als Gegenmaßnahme zur Rationierung von Milch und Butter gekauft, und in den Downs mehrten sich die Anzeichen, daß sich die Armee auf eine Invasion vorbereitete. Funkmeldeeinheiten waren plötzlich dort stationiert worden.
Nichts von alledem hatte Lewis jedoch auf den Anblick Londons vorbereitet. Er hatte das Gesicht an einen Schlitz im provisorisch mit Klebeband verdunkelten Bus gepreßt, während dieser langsam durch die leeren Straßen kurvte. Die Menschen sparten ihre Benzinzuteilungen für die Wochenenden und nutzten, wenn möglich, die überfüllten öffentlichen Verkehrsmittel. Schützengräben aus Sandsäcken, manche durch grelle Farbmarkierungen gekennzeichnet, verschandelten die öffentlichen Parks. Die hin und her hastenden Fußgänger waren alle in düsteres Grau und Braun gekleidet, als hätten sie sich freiwillig das Tragen von Tarnkleidung auferlegt.
Er ging von der Bushaltestelle zur Stebondale Street zu Fuß, und seine Schritte wurden immer schleppender, als er die
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