Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Gemma überquerte die Straße, klopfte an die blaue Tür und sagte sich, daß er, wenn sie Pech hatte, genausogut in South Kensington oder sogar in Islington mit seiner Klarinette unterwegs sein konnte.
Nach wenigen Minuten jedoch ging die Tür auf. Gordon starrte sie schlaftrunken an. »Gemma?«
»Habe ich Sie geweckt?« fragte sie. Das Haar stand ihm wirr vom Kopf ab und die eine Gesichtshälfte zeigte deutliche Schlafspuren.
Er schüttelte den Kopf, als müsse er wach werden. »Ja, schätze schon«, antwortete er. »Hatte gestern eine lange Nacht im Aufnahmestudio. Sind erst im Morgengrauen fertig geworden.« Er gähnte. »Wenn Sie mich wieder mit Fragen löchern wollen, dann kommen Sie lieber rein. Aber zuerst setze ich Kaffeewasser auf.« Hundekrallen ratschten über die Holzbretter der Treppe, als Sam herunterkam. Nach einem fragenden Blick auf seinen Herrn, verschwand er in einer Rabatte an der Seite des Gebäudes und machte sein Geschäft.
Als der Hund fertig war, folgte Gemma den beiden die Treppe hinauf. Die Wohnung sah aus wie bei ihrem letzten Besuch, nur war diesmal das schmale Bett nicht gemacht. Sam streckte sich mit einem Seufzer davor aus und schloß die Augen.
»Er wird für diese langen Nächte allmählich zu alt«, bemerkte Gordon und gab seinen Versuch auf, die Bettdecke zu ordnen. »Dabei hat’s so ausgesehen, als habe er im Studio nur geschlafen.« Er ging in die Hocke und rieb dem Hund die Ohren. »Schätze, er kann’s nicht leiden, wenn sein normaler Tagesablauf gestört wird.« Er richtete sich auf und deutete auf den kleinen Tisch. »Machen Sie sich’s bequem«, forderte er sie ohne den befürchteten Sarkasmus auf. »Dauert nur eine Minute«, fügte er hinzu, bevor er im Badezimmer verschwand.
Als er kurz darauf zurückkam, hatte er sich die Haare gekämmt und das Hemd zugeknöpft.
Er setzte Wasser auf und nahm eine französische Kaffeekanne und eine Tüte gemahlenen Kaffee aus dem Schrank in der kleinen Küche. Während er Kaffee in die Kanne löffelte, sah er Gemma fragend an. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich habe gerade auf dem Revier Kaffee getrunken, sofern man das Gesöff Kaffee nennen kann. Eines Tages bringen sie damit noch jemanden um.«
Sie merkte, wie idiotisch das klang, und unterdrückte jeden weiteren Versuch, das Schweigen mit Platitüden zu füllen. Statt dessen fragte sie: »Was haben Sie denn im Studio aufgenommen?«
»Ein paar Freunde von einer Rockband brauchten ein Klarinettensolo für eines ihrer Demobänder.«
»Machen Sie häufiger Studioaufnahmen?« wollte sie neugierig wissen.
Gordon zuckte die Schultern und goß Wasser über den Kaffee. »Ich lehne kein Angebot ab ... ist eine Abwechslung zur Straße.«
»Hätte nicht gedacht, daß Bands eine Klarinette für ihre Musik brauchen.«
»Ich spiele alles - Jazz, Klassik - und nehme sogar Musik für Werbespots auf. Ich bin kein musikalischer Snob. Musik ist für mich keine Einbahnstraße.« Er sah auf und goß Kaffee in einen der beiden Becher, die er zu besitzen schien. »Die Rock-Freaks, die Klassik für Schrott halten, sind genauso dämlich wie die Klassik-Fans, die Rock beschissen finden.«
Er versuchte, seinen Kaffee in der Tasse durch Hineinblasen abzukühlen, und trank vorsichtig einen Schluck. Dann setzte er sich ihr gegenüber hin. Seine Augen waren jetzt klar und direkt auf sie gerichtet. »Also, Sergeant, was liegt denn heute an?«
»Die Wahrheit.«
Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich dachte, die hätten wir abgehakt.«
»Sie müssen gewußt haben, daß Ihr Vater großes Interesse daran hatte, den Lagerspeicher der Hammonds zu kaufen und das Gebäude zu renovieren und umzubauen«, platzte sie heraus. »Warum haben Sie mir das nicht gesagt?«
»Von den Hammonds? Sie meinen Annabelles Firma? Warum hätte ich das wissen sollen?« entgegnete er, und das klang plausibel. »Ich habe meinen Vater seit einer Ewigkeit...«
»Jedenfalls scheinen es die Spatzen von den Dächern gepfiffen zu haben. Sogar Ihr Freund von der Bürgervereinigung hat davon gewußt. Und da soll ich Ihnen abnehmen, daß er es Ihnen gegenüber nie erwähnt hat? Ganz zu schweigen davon, daß Sie es vermutlich schon seit langem gewußt haben.«
Gordon starrte sie mit ausdrucksloser Miene an. »Mein Vater kauft ständig Immobilien ... das ist sein Job. Warum sollte jemand über ein Objekt reden, das er nicht hatte kaufen können? Sie
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