Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
nicht mal in der Nähe der Grange Road«, entgegnete er sanft. »Außerdem fährst du in diesem alten Lumpenmantel nicht in die Stadt.« Er legte einen Finger unter ihr Kinn und hob ihr Gesicht zu sich auf, damit sie ihm in die Augen sehen mußte. »Woher hast du’s gewußt?«
»Ich wußte, daß du herkommen mußt. Und ich wußte, daß du’s mir nicht sagen würdest.«
»Nur, weil ich dir keinen Kummer machen wollte.«
Francesca strich ihm eine wirre Haarlocke aus der Stirn. »Wann kriegst du es endlich in deinen Dickschädel, daß das Nichtwissen, das Nicht-darüber-Reden alles nur schlimmer macht? Du tigerst schon seit Tagen übellaunig durchs Haus. Es war absehbar, daß du irgendwann hier landen würdest.«
»Nach all den Jahren müßte ich mittlerweile eigentlich kapiert haben, daß ich vor dir nichts verbergen kann«, sagte er mit gezwungenem Lächeln. »Davon abgesehen, muß ich mich um das Haus kümmern. Warum sollte ich dich damit belästigen?«
»Dann trenn dich diesmal davon, Morgan. Trenn dich von ihr. Du kratzt an dieser Wunde seit über zwanzig Jahren. Wenn du nicht aufhörst, heilt es nie. Ruf morgen einen Makler an. Dann mußt du dieses Haus nie wieder betreten. Wir haben ein gutes Leben, wir beide. Laß uns doch weitermachen wie bisher. Bitte.«
Morgan nahm seine Frau in die Arme und preßte ihr Gesicht an seine Brust. Er strich ihr über das dunkelblonde, von Silberfäden durchzogene Haar, das sie zu einem dicken Zopf geflochten trug. Francesca hatte ihn aus der Hölle seiner ersten Ehe gerettet, und er hatte sich in sie verliebt, weil sie alles verkörperte, was Lydia nicht gewesen war. Sie hatte keine Ansprüche an sich selbst, war klug, aber frei von jeder intellektuellen Arroganz. Sie war ihm eine unverrückbare Stütze in seinem Kampf gegen Depressionen gewesen, hatte andere vor seinen Launen und Ausfällen geschützt und mit Würde und Mut das Schicksal ertragen, die Kinder nicht bekommen zu können, die sie sich so sehr gewünscht hatte.
Sie hatten sich ein gutes Leben aufgebaut. Francescas Ruf als Textilkünstlerin hatte sich im Lauf der Jahre ebenso weit verbreitet wie sein Renommé als Fotograf. Gemeinsam hatten sie ihr renoviertes Bauernhaus auf dem Land westlich von Cambridge zu einem Künstlerzentrum ausgebaut. Was konnte er sich mehr wünschen?
Wie also sollte er Francesca klarmachen, daß er Lydia nicht loslassen konnte?
Der Nachmittagstee! Endlich, dachte Daphne Morris mit einem Seufzer der Erleichterung, als sie das Klopfen an ihrer Bürotür hörte. Sie sah von den Geschichtsaufsätzen auf, die sie korrigierte, und rief: »Herein!« Dann nahm sie die Brille ab und massierte sich die Nasenwurzel.
»Tut mir leid, daß es spät geworden ist«, sagte Jeanette und balancierte das Tablett durch die schwere Tür. »Es kam wieder einmal eines zum anderen.«
Daphne lächelte über ihren Handrücken hinweg. Bei Jeanette wurde es immer ein wenig >spät<, und es kam immer >eines zum anderen<. Aber sie war für die Schule so unentbehrlich, daß Daphne sich damit abgefunden hatte. Und auf ein paar Minuten kam es schließlich nicht an.
»War wieder mal diese Muriel«, erklärte Jeanette, stellte das Tablett auf den Schreibtisch und schenkte Tee ein. »Sie hat der Köchin zugesetzt und behauptet, die Mädchen hätten >einstimmig< beschlossen, >den Genuß von Rindfleisch zu verweigern<. Was sagt man dazu?« Sie sank mit einem Seufzer auf den Stuhl vor Daphnes Schreibtisch.
Daphne rollte die Augen. »Nimmst du heute keinen Tee?« fragte sie und deutete auf die Teekanne, als sie sich mit ihrer Tasse zurücklehnte und an einem Keks knabberte.
»Habe schon mit der Köchin Tee getrunken. Schien die beste Methode zu sein, die Scherben zu stopfen.«
Daphne nahm sich lächelnd vor, sich diese neue Version von Jeanettes vermischten Metaphern zu merken. »Schick Muriel zu mir. Ich bringe das schon ins Lot«, erklärte sie lustlos.
Insgeheim war sie froh, daß es Muriel Baines’ letztes Jahr als Schulsprecherin an der St.-Winifred-Schule war, denn das Mädchen hatte Daphnes Politik der Unparteilichkeit auf eine harte Probe gestellt. Einige Lehrer, denen Muriels Schmeicheleien den Kopf verdreht hatten, hatten Daphne überredet, sie zur Schulsprecherin zu küren, und das wider besseres Wissen. Sie hatte Muriel mit der herrischen Art und dem spitzen Busen von vornherein nicht gemocht, und die nähere Bekanntschaft mit ihr hatte
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