Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
daran nichts geändert.
»Ich werfe mich lieber wieder ins Kampfgetümmel«, erklärte Jeanette und hievte sich aus dem Stuhl. Sie lächelte.
Was für ein gutes, freundliches Gesicht Jeanette doch hat, dachte Daphne wie so oft. Man konnte sie beim besten Willen nicht als hübsch bezeichnen, mit ihrer pockennarbigen Haut und dem glanzlosen, blonden, kurzen Haar. Aber wenn sie lächelte, sah sie wie ein Engel aus.
Jeanette war mehr als nur eine Assistentin. In den Jahren nach Lydias Tod war sie eine Freundin geworden - jemand, dem man sich anvertrauen, wenn auch nicht ihn lieben konnte, wie Daphne Lydia geliebt hatte.
Als Jeanette gegangen war, stand Daphne auf und ging zum Fenster. Ihr Büro lag im zweiten Stock, mit Blick auf die kreisförmige Auffahrt und die Parklandschaft, die bis zur Straße hinunterreichte. Selbst in der Dämmerung des frühen Abends konnte sie den Fleck Narzissen im Rasen unter den grünenden Bäumen erkennen. Sie waren in diesem Frühjahr spät gekommen, zögerten, ihr Gesicht nach einem besonders harten Winter zu zeigen.
Einen Moment lang gestattete sie sich das Gefühl, nichts habe sich geändert, sie könne diesen Aprilabend verbringen wie so viele andere davor. Sie stellte sich vor, sie könne sich nach dem Abendessen aus dem Gemeinschaftsraum wegschleichen und mit dem kleinen Volkswagen davonfahren, der hinter den Anbauten parkte. Dann ging es über die Auffahrt hinunter und wenige Minuten später in die Grange Road. Es folgten kostbare Stunden mit Lydia, die zusammengekauert auf dem Sofa im Arbeitszimmer saß, während sie Sherry tranken, Musik hörten, darüber sprachen, was sie während des Tages erlebt hatten.
Sie erzählte Lydia die neueste Anekdote über Muriel... Lydia lachte, und sie verbrachten herrliche Minuten damit, sich perverse Folterstrafen für das arme Mädchen auszudenken.
Lydia las Daphne später das Gedicht vor, an dem sie gearbeitet hatte, sie diskutierten darüber, veränderten es so lange, bis Lydia zufrieden war. Obwohl Daphnes Spezialgebiet Geschichte war, hatte sie ein gutes Ohr, und Lydia hatte oft behauptet, daß allein der Vorgang des laut Vorlesens ihr zeige, was an einem Gedicht nicht stimme.
Ihre Freundschaft war zwanglos, anspruchslos und doch befriedigender gewesen als alles, was Daphne bis dahin gekannt hatte.
Sie wandte sich vom Fenster ab und strich ihren Rock glatt. Genug der Nostalgie. Mehr davon führte nur zu weinerlichem Selbstmitleid, und sie hatte Pflichten zu erledigen. Sie strich sich vor einem schmalen gerahmten Spiegel auf ihrem Bücherregal das Haar glatt und rückte den Kragen der weißen Seidenbluse zurecht, die sie zum Kostümrock trug. Sie beschloß, das maßgeschneiderte marineblaue Jackett anzuziehen, um die Baines ein wenig einzuschüchtern.
In jenen fernen Tagen in Cambridge, als sie alles und jeden nur zum Spaß in Frage gestellt hatten, hatte sie nicht im Traum daran gedacht, einst genau jene Stellung einzunehmen, gegen die sie so sehr rebelliert hatten.
Stirnrunzelnd ging Kincaid einer Gruppe kichernder Teenager aus dem Weg, die ihn beinahe überrannt hätte. Hamp-stead High Street schien für einen normalen Donnerstagabend ungewöhnlich bevölkert, und während er von der U-Bahn-station bergab schlenderte, betrachtete er die Leute auf den Bürgersteigen ohne auch nur den Anflug seiner üblichen guten Laune.
Er hatte im Büro herumgetrödelt, Papierkram erledigt, der bis zum nächsten Tag Zeit gehabt hätte, und dabei auf ein Wort mit Gemma gehofft, nur um schließlich feststellen zu müssen, daß sie das Büro längst verlassen hatte, ohne sich bei ihm abzumelden.
Während er nun im abendlichen Zwielicht nach Hause ging, war er wütend und beunruhigt. Er, der es gewohnt war, beruflich schnelle Entscheidungen zu fällen, war angesichts der distanzierten Höflichkeit, die Gemma zelebrierte, hilflos und unentschlossen. Erwartete sie möglicherweise eine Entschuldigung? fragte er sich, als er in die Carlingford Road einbog. Aber wofür sollte er sich entschuldigen? Er war sich keines Fehlverhaltens bewußt.
Er betrat das Apartmenthaus, stieg die Treppe hinauf, ohne die Beleuchtung anzuknipsen, und verließ sich lieber auf das schwache Licht, das durch die Fenster am oberen Treppenabsatz hereinfiel. In der zwielichtigen Stille des Treppenhauses hörte er das Klopfen seines Herzens und fragte sich verzagt, ob Gemma tatsächlich keinen Grund zur Klage hatte. Was
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