Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
einschüchternd das Thema auch ist.
Bis zum Mittag hatte der Wind den Himmel von sämtlichen Wolken gesäubert, und ich hatte das dringende Bedürfnis, an die frische Luft zu kommen, den herrlichen Tag in mich aufzusaugen. Ich habe Daphne geweckt und sie überredet, mit mir einen Spaziergang zu machen. Armes Mädchen! Sie war noch im Nachthemd, gähnte und rieb sich die Augen, da sie die ganze Nacht über gebüffelt hatte. Mit ihrer kastanienbraunen Haarmähne und dem ovalen Gesicht sah sie ein bißchen wie die Venus aus dem Bade aus. Sie ist ein prima Kamerad und war bald ausgehfertig, so daß wir aufbrechen konnten.
Die Luft war rein und kalt, und unsere Schritte führten uns automatisch nach Grantchester. Wir wanderten zügig den Flußpfad entlang, den Nordwind im Rücken, und im Nu hatten wir die Flußauen erreicht. Es gibt dort, ungefähr auf halbem Weg, eine bestimmte Stelle, die ich liebe. Dort mache ich immer halt und lasse für einen Moment den Blick kreisen. Im Norden schweben die Türme von Cambridge losgelöst über der Ebene. Im Süden sind die Dächer und Schornsteine von Grantchester zu sehen, von denen Rauchsäulen aufsteigen, die sich in der flachen blauen Schüssel des Himmels über Cambridge verlieren.
Daphne studiert Vergleichende Religionswissenschaften, und wir haben über die unterschiedlichen Richtungen in der Philosophie diskutiert. In letzter Zeit frage ich mich oft, ob an der Vorstellung der Wiedergeburt nicht etwas dran ist ... jedenfalls würde es eine Erklärung für meine Gefühle liefern. Und das ist nicht nur eine Frage des Raumes, sondern auch der Zeit. Ich fühle mich in unserer Gegenwart oft fehl am Platz.
Natürlich vermittelt Cambridge an sich schon ein Gefühl der Zeitlosigkeit. Trotzdem scheine ich eine besondere Affinität zu den Jahren vor dem ersten Weltkrieg zu haben. Lese ich von Rupert Brooke und seinen Freunden, so ist es, als könne ich sie beinahe vor mir sehen. Ich weiß, wie es gewesen sein muß dabeizusein, im Garten von The Orchard Tee zu trinken, einander Gedichte laut vorzulesen, vor dem Kamin in Ruperts Arbeitszimmer im Old Vicarage, oder im Mill Race zu baden.
Genau das haben wir dann auch getan ... Daphne und ich. Wir haben Tee im >Orchard< getrunken unter den großen Apfelbäumen im Garten, die Gesichter in die Sonne gereckt. Und als das Licht schwand, sind wir nach drinnen gezogen vors prasselnde Kaminfeuer.
Später auf dem Heimweg haben wir durch den Zaun auf die >Old Vicarage< nebenan gesehen und beobachtet, wie in der Dämmerung die Lichter angingen. Das Haus sieht ein wenig heruntergekommen und der Garten verwildert aus, aber ich glaube, Rupert Brooke hat es so gemocht.
Während ich das Haus betrachtet habe, habe ich mir vorgestellt, wie sie auf dunklen Pfaden im Garten gewandelt sind, Arm in Arm, die Frauen in langen, weißen, hochgeschlossenen Kleidern, die Männer in weißen Tennisanzügen oder gestreiften Jacketts. Der Wind hat ihre Stimmen wie von fern zu mir getragen, und ich glaubte, ihre Gesichter zu erkennen: Dudley Ward und Justin Brooke, Ka Cox, die Darwins, James Strachey, Jacques Raverat und die kleine Noel Olivier, vielleicht an Ruperts Arm, den dunklen Kopf gereckt, während sie ihm zuhörte? Sie haben über Politik, Sozialismus, Kunst gesprochen ... aber ich glaube, da waren auch viel Leid und Dummheiten im Spiel.
Ich fühle mich Rupert über unseren gemeinsamen Namen hinaus seelenverwandt. Ich teile seine Leidenschaft für das Wort und die Hingabe an seine Kunst - und ich hoffe, seine Selbstdisziplin zu haben. Wie wenig sich doch verändert. 1907 hatten Brooke und einige seiner Freunde vom King’s College eine Gesellschaft namens The Car-bonari gegründet; nur zum Zweck des Denkens und Diskutierens, um abzustecken, was sie über die Welt dachten. Eines Abends hat Brooke einmal gesagt: »Es gibt nur drei Dinge in der Welt. Das eine ist, Dichtung zu lesen, das andere ist, Gedichte zu schreiben, und das beste von allem ist, Poesie zu leben.«
So inspiriert haben mich diese Worte, daß ich schreibe, wo und wann immer ich kann. Ich stelle fest, es ist alles Wasser auf meine Mühlen. Man kann Poesie nicht vom Leben trennen -... das Leben beharrt darauf auszubluten, auf all seinen zahllosen und verschlungenen Wegen.
Ich habe ein langes Gedicht mit dem Titel >Sonnenwende< vollendet und lege eine Kopie für Dich bei. Ich habe es gleichzeitig an eine Zeitschrift geschickt und erwarte nun die
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