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Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen

Titel: Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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hatte er wirklich gefühlt, als er Vic nach all den Jahren wiedersah?
      Die Frage schwebte unbeantwortet im Raum, als er die Wohnungstür aufschloß. Beim Geräusch der Tür sah Sid von seinem Platz auf dem Sofa auf, reckte sich, blinzelte und schlief prompt wieder ein.
      »Du bist also auch nicht sonderlich begeistert, mich zu sehen«, sagte Kincaid und kraulte den trägen Kater hinter den Ohren. Er ging zur Glastür und trat auf den Balkon hinaus. Der Garten lag schon im Dunkeln, und während er dastand, flammte die Küchenbeleuchtung des Hauses gegenüber auf. Er fühlte sich einsam, und plötzlich erschien ihm die Vorstellung eines Abends allein in der Wohnung, nur mit einem Kater als Gesellschaft, außerordentlich unattraktiv.
      Er erinnerte sich, daß es eine Zeit gegeben hatte, da ihm solche Abende als Kontrastprogramm zu den Anforderungen seines Jobs geradezu willkommen gewesen waren. Offenbar hatte er sich verändert, ohne es zu merken. Gemma fehlte ihm! Und er stellte überrascht fest, daß er auch Toby und das übliche Chaos der alltäglichen Abende mit den beiden vermißte.
      Eine schattenhafte Bewegung im Garten unterhalb des Balkons erregte seine Aufmerksamkeit. Dann erkannte er die Silhouette des Nachbarn aus der Parterrewohnung. Major Keith, der vor einer Rabatte gekniet hatte, war aufgestanden. Obwohl er und der Major nach dem Tod ihrer Nachbarin Jasmine Dent Freunde geworden waren und der Major sich oft in seiner Abwesenheit um Sid kümmerte, hatte Kincaid ihn in den vergangenen Monaten selten gesprochen. »Major! Kommen Sie auf einen Whisky rauf!« rief er spontan. Diese Unterlassungssünde jedenfalls konnte er wiedergutmachen.
      Der Major winkte ihm zustimmend zu, und wenige Minuten später stand vor Kincaids Tür ein frisch geduschter und gekämmter kleiner, untersetzter Mann. Seine Haut hatte die tropische Bräune nie verloren, die er sich während seiner Jahre in Indien zugelegt hatte, und sein schütteres eisgraues Haar war noch immer militärisch korrekt geschnitten. Kincaid wußte allerdings aus Erfahrung, daß sich hinter der schroffen und zurückhaltenden Art des Majors ein freundliches Herz und ein kluger Verstand verbargen. Kincaid mochte ihn und vertraute ihm.
      Als es sich der Major in Kincaids tiefem Sessel mit einem großzügig eingeschenkten Glas Whisky bequem gemacht hatte, räusperte er sich und zog die Augenbrauen zusammen. »Nun, Mr. Kincaid, ich habe Ihre junge Dame in letzter Zeit hier bei uns vermißt.«
      Das war die direkteste Frage, die Kincaid je vom Major gehört hatte. Sie verdiente eine ehrliche Antwort: »Hm, sie ist ein bißchen sauer auf mich. Meine Ex-Frau hat mich aus heiterem Himmel angerufen und mich um einen Gefallen gebeten. Das scheint Gemma verärgert zu haben.«
      »Haben Sie Ihrer Ex-Frau den Gefallen getan?« erkundigte sich der Major.
      »Soweit das möglich war, ja. War eine berufliche Angelegenheit. Ist noch nicht ganz abgeschlossen.«
      Der Major sah ihn nachdenklich an: »Könnte es sein, daß Sie gar nicht so recht erpicht drauf sind, die Sache abzuschließen?«
      Kincaid hielt dem steten Blick des Majors nicht stand. Verzögerte er die Sache mit Vic unnötig? Anfangs hatten ihn Neugier und seine Höflichkeit motiviert. Mittlerweile hätte er sich mit einem einzigen Anruf, in dem er Vic sagte, was er erfahren hatte, aus der Affäre ziehen können ... War es wirklich nötig gewesen, ein zweites Treffen zu verabreden?
      Er mußte zugeben, daß ihn der Unterschied zwischen der Frau, die er gekannt hatte, und der Frau, die aus ihr geworden war, faszinierte. Gleichzeitig zog ihn die Vertrautheit an, die sie für ihn noch immer ausstrahlte. »Ich weiß es nicht«, erwiderte er schließlich.
      Der Major schien diese unzulängliche Antwort gründlich zu überdenken, während er an seinem Whisky nippte, dann sagte er bedächtig: »So verführerisch es auch sein mag, ich habe die Erfahrung gemacht, daß es sich nicht auszahlt, die Vergangenheit wiederzubeleben.«
     
    Neumham 21. April 1962
      Liebste Mami,
    mein Brief kommt diese Woche spät, aber ich will schreiben, bis mir die Augen zufallen.
      Der Tag begann grau und feucht, gut zum Arbeiten, also habe ich mich an meine Hausarbeit über die englischen Moralisten gemacht. Die Abhandlung ist meine Chance, alles, was ich in den letzten beiden Semestern gelesen habe, zusammenzufassen und meiner Meinung darüber Ausdruck zu verleihen. Das Vorhaben begeistert mich, so

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