Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
daran, daß die Enttäuschung ihr anzusehen war.
»Kann man nichts machen.« Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Es war für Sie ein viel größerer Verlust. Aber ich frage mich ...« Sie zögerte, weiter in ihn zu dringen. »Erinnern Sie sich, ob in den Briefen Ungewöhnliches stand, bevor ...«
»Bevor sie mit dem Wagen gegen den Baum gefahren ist?« Zum ersten Mal klang Ärger aus Adams Stimme. »Eine große Dummheit! Ich habe später erfahren, sie habe behauptet, die Kontrolle über den Wagen verloren zu haben. Das habe ich nie geglaubt. Sie war eine gute Autofahrerin, sehr konzentriert. Fast alles, was sie tat, machte sie gut.«
»Aber die Briefe ...?«
»Sie hat mir nie mehr anvertraut als harmlosen Klatsch«, erwiderte Adam und stand abrupt auf. »Wenn Sie mehr über ihre Gemütsverfassung wissen wollen, fragen Sie Daphne.«
* 6
In der Stille des Todes; vielleicht seh’ und erkenne ich, schemenhaft nur, über mich gebeugt, letztes Licht im Dunkel, noch einmal, wie einst dein Gesicht.
Rupert Brooke aus >Choriambi I<
Newnham 20. Juni 1962
Liebste Mami,
es gibt so viel zu erzählen, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Ich habe mein Bett seit zwei Tagen nicht mehr gesehen, aber ich bin noch immer viel zu aufgeregt, um zu schlafen, und deshalb habe ich beschlossen, Dir die Woche der Maifeiern in Cambridge zu schildern, solang mir all die wunderbaren Dinge noch frisch in Erinnerung sind.
Kaum hatte ich meine Examen geschrieben (ich war wie in Trance vor Erschöpfung), begann zum Glück der Party-Marathon, denn sonst hätte ich nur bange auf die Ergebnisse gewartet. Die Stimmung hier grenzt an Hysterie, denn alle sind erleichtert, ängstlich und völlig durchgedreht vom nächtelangen Pauken. Daphne und ich sind brav von College zu College treppauf und treppab marschiert, wild entschlossen, keine einzige Einladung auszulassen. Einige der Feste waren pompös, andere reichlich improvisiert mit Kartoffelchips und Bier, aber dafür meistens am amüsantesten.
Sogar auf den schicken Parties ging es entspannt und locker zu. Es wurde viel getrunken, geredet und getanzt. Wenn mir etwas den Spaß verdorben hat, dann die Tatsache, daß ich einen hartnäckigen Verehrer erworben habe - und ganz unfreiwillig. Er ist ein dunkelhaariger, düster dreinschauender Waliser namens Morgan Ashby; ein Kunststudent, der mir immer und überall an den Fersen klebt. Er beobachtet mich stets mit seelenvollem Blick aus der Entfernung, was mich irritiert. Irgendwann hat er den Mut gehabt, mich zu seiner Maifeier einzuladen, aber ich habe keine Lust, die Cathy zu seinem Heathcliff zu geben und habe die Einladung ausgeschlagen. Davon abgesehen war ich schon seit Monaten bei Adam eingeladen, und ich hätte den lieben, süßen Adam um keinen Preis der Welt versetzt.
Wir sind ein Kleeblatt, Adam und ich, Nathan und Daphne, und der Himmel hat es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, für uns die perfekte Kulisse fürs Ende unseres ersten Jahrs und unseres ersten Maiballs in Cambridge zu schaffen: Vollmond und glitzernde Sterne in einer beinahe tropischen Nacht. Im Garten hatten sie Lichterketten in die Bäume gehängt. Es sah aus wie im Märchen. Wir haben auf dem Rasen getanzt. Daphne und ich trugen beide durchsichtiges Weiß und haben uns eingebildet, Najaden (oder heißen sie Dryaden?) zu sein und schweben zu können.
Wir können uns nun zu den Überlebenden zählen. Wir haben die Nacht durchgemacht und sind in den frühen Morgenstunden mit einem Nachen zum Frühstück nach Grantchester gestakt. Wir waren zwar geschafft, aber noch immer in Form. In Grantchester haben wir Adams Freund Darcy Eliot und seine Freundin getroffen, eine geistlose Blondine aus Girton. Leider, muß ich sagen, denn Darcy scheint entschlossen, zu uns zu gehören. Er sieht nicht nur umwerfend gut aus, ist charmant und ein vielversprechender Poet - seine Mutter ist auch noch Margery Lester, die Romanautorin. Du weißt, wie sehr ich ihre Bücher liebe - schließlich hast Du sie mir gegeben. Und ich wage kaum zu hoffen, sie eines Tages kennenzulernen.
Das Morgenlicht ist sanft und schattenlos geworden, und wenn ich die Augen schließe, kann ich einen Hauch von Regen riechen. Mein Ballkleid liegt auf dem Stuhl, ein bißchen verknautscht, jetzt im Tageslicht. Ich fühle mich verloren, wie Aschenputtel am Tag danach. Diese Zeit kommt nie wieder, und ich frage mich, ob ich es je ertragen kann, sie verloren
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