Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
und sah sie an. »Nathan hat sie gefunden?« fragte sie ungläubig. »Nathan hat mir nie erzählt, daß er derjenige gewesen ist.«
Das grelle Licht der Lampe lag auf ihrem Gesicht, und Gemma entdeckte zum ersten Mal die welker werdende Haut um ihre Augen und die scharfen Falten an ihren Mundwinkeln.
»Wieso hätte er dir das denn erzählen sollen?« erkundigte sich Kincaid.
Vic wurde rot und sah weg. »Es ist nur ... Ich dachte ... wir wären Freunde.«
»Vielleicht wollte er Sie schonen«, vermutete Gemma und wünschte plötzlich, sie hätte die Notizen gelesen und sich nicht mit Kincaids kurzer Zusammenfassung zufriedengegeben. »Oder es fällt ihm schwer, darüber zu sprechen.«
»Außerdem muß es in einer der Zeitungen gestanden haben«, vermutete Kincaid.
»Wo denn zum Beispiel? Es gab nur zwei kurze Meldungen in den Lokalblättern. In der ersten steht, daß Lydia Brooke tot in ihrem Haus in Cambridge aufgefunden wurde, und in der zweiten, daß sie an einer Überdosis ihres Herzmedikaments gestorben ist und daß der zuständige Richter auf Selbstmord entschieden hat. Das ist alles.«
»Und an der Uni? Da ist doch sicher geklatscht worden?«
»Dieses eine Mal erwies sich die akademische Klatschbörse als merkwürdig unergiebig«, erklärte Vic angewidert. »Es ist, als sei einfach eine Tür zugefallen, als Lydia starb. Danach gab es weder Spekulationen noch irgendwelche Nachrufe, nichts.« Vic sprang unruhig auf und ging vor dem Kamin auf und ab. »Darauf war ich nicht vorbereitet. Ich bin kein Quentin Bell. Ich schreibe keine Biographie über eine Frau wie Virginia Woolf. Lydia war keine zentrale Figur der literarischen Szene ihrer Zeit. Selbst in Literaturzirkeln war sie kaum bekannt. Ich wußte also von Anfang an, daß ich nicht hoffen konnte, auf aufschlußreiche, informative Briefe in der Korrespondenz berühmter Leute zu stoßen. Trotzdem - mit dieser Gleichgültigkeit, was ihre Person betrifft, hatte ich nicht gerechnet. Niemand, der sie gekannt hat, will auch nur irgend etwas preisgeben. Ihr Ex-Mann ist beinahe auf mich losgegangen, als ich mit ihm reden wollte.
Und das hier ...« Sie wedelte mit Kincaids Notizen in der Luft herum. »... daran stimmt überhaupt nichts.«
»Was soll das heißen, es stimmt nicht?« fragte Kincaid. Gemma konnte sein flapsiger Ton nicht täuschen. Sie wußte, er war neugierig geworden.
Vic setzte sich auf die Lehne ihres Sessels und beugte sich vor. »Die Sache mit Nathan, zum Beispiel. Warum hat Lydia Nathan angerufen und ihn zu sich gebeten?«
»Schätze, sie wollte lieber von ihm als von der Putzfrau oder einem Nachbarn gefunden werden«, vermutete Kincaid.
»Sie hätte ihm das nie zugemutet! Begreifst du das nicht? Nicht Nathan. Sie waren uralte Freunde, und er hatte wenige Monate zuvor, nach langem Kampf gegen den Krebs, seine Frau verloren. Sie hätte ihm das nie angetan.«
»Wenn Menschen deprimiert sind, tun sie oft Dinge ...«
Vic schüttelte energisch den Kopf. »Und was ist mit ihrer Kleidung? Lydia hatte Stil, verdammt. Die Vorstellung ist einfach absurd, daß sie ihren Selbstmord bühnenreif arrangiert haben soll, nur um sich schließlich in ihren alten Gartenklamotten umzubringen.«
»Ich muß zugeben, daß mir das auch komisch vorkam«, gestand Kincaid vorsichtig. »Aber gelegentlich ...«
»Und dann das Gedicht! Völliger Blödsinn!« fuhr Vic unerbittlich fort. Sie begann hastig zu blättern. »Laßt mich nur ...«
»Warum?« Die Schärfe in seiner Stimme ließ Vic aufsehen. »Wieso ist das Blödsinn?« wiederholte er.
»Es ist nicht von ihr«, antwortete Vic prompt. »Es ist eine Sequenz aus einem Rupert-Brooke-Gedicht mit dem Titel Choriambics.«
»Kann ich es sehen?« bat Gemma. Sie nahm Vic das Blatt aus der Hand. Als sie die Blicke der anderen auf sich gerichtet fühlte, las sie laut vor:
»In der Stille des Todes; vielleicht seh’ und erkenne ich schemenhaft nur, über mich gebeugt, letztes Licht im Dunkel, noch einmal, wie einst, dein Gesicht.«
Gemma sah auf. »Scheint doch zu passen. Ganz besonders, wenn sie gerade eine große Liebe verloren hat.«
»Wenn sie eine so fanatische Anhängerin von Rupert Brookes Kunst war, was bitte lag näher, als eines seiner Gedichte wie eine letzte Botschaft zu benutzen?« warf Kincaid ein.
»Näher als eines ihrer eigenen Gedichte?« Vic schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Lydia war
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