Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Lyrikerin aus Passion. Das hat aus ihr gemacht, was sie war. Deshalb wollte ich über sie schreiben. Frauen brauchen Vorbilder wie sie ... Wir anderen möchten die Geschichten von Frauen erfahren, die ihre Träume um jeden Preis ausgelebt haben. Vielleicht hilft uns das, unsere eigenen Ziele zu erreichen. Vielleicht, ohne so viel leiden zu müssen.«
»Warum sollte sie Zeilen aus einem Brooke-Gedicht in ihre Schreibmaschine eingespannt haben, wenn diese nicht als Nachricht für die Nachwelt gedacht waren?« wollte Kincaid mit skeptisch hochgezogenen Brauen wissen.
»Keine Ahnung. Aber ich weiß, daß sie sich niemals mit den Worten eines anderen verabschiedet hätte.« Vic rieb sich über die Stirn. »Wie soll ich euch das nur begreiflich machen? Worte waren alles für sie - Freude, Leid, Trost. Im Angesicht ihres Todes hätte sie niemals darauf verzichtet. Das wäre ihr als ungeheuerlicher Verrat erschienen.«
Im Kamin explodierte ein Stück Harz. In die folgende Stille hinein sagte Gemma: »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen.«
»Sie halten mich nicht für verrückt?«
»Nein. Ich weiß zwar nicht viel über Lyrik, aber ich verstehe gut, daß man sich selbst treu bleiben will.«
Vic wandte sich Kincaid zu. »Und was ist mit dir? Habe ich dich überzeugt?«
Nach langen Minuten sagte er widerwillig: »Vermutlich. Aber ich verstehe noch nicht, wie ...«
»Inzwischen ist noch einiges dazugekommen«, fiel Vic ihm ins Wort. »Seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, meine ich. Vergangene Woche hat Nathan mir ein Buch gegeben, das er unter Lydias Sachen gefunden hatte. Edward Marshs Biographie über Rupert Brooke. Sie stammt aus dem Jahr 1919 und enthält die erste posthum erschienene Sammlung von Brookes Gedichten. Das Buch gehörte zu Lydias Schätzen - sie hatte es in einem Antiquariat in ihrem ersten Jahr in Cambridge entdeckt. Es liegt ganz oben auf dem Stapel auf meinem Nachttisch.« Sie lächelte Kincaid verstohlen zu, und Gemma fragte sich, ob Vics Gewohnheit, mit Büchern ins Bett zu gehen, ein Streitpunkt zwischen ihnen gewesen war. »Aber erst gestern abend habe ich mir Zeit genommen, es mir genauer anzusehen. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie ich mich gefühlt habe, als dabei die Manuskriptseiten herausfielen.« Vic lächelte verzückt.
»Was für Manuskriptseiten?« fragte Kincaid verwirrt. »Wie war doch gleich der Name des Autors?«
»Edward Marsh«, sagte Gemma, aber Vic schüttelte den Kopf.
»Der tut nichts zur Sache. Es handelt sich um Gedichte - um Lydias Entwürfe. Korrigierte Rohfassungen. Ich zeige sie euch.« Sie lief aus dem Zimmer und kam kurz darauf mit einigen Blättern zurück. Sie hatte ihre Brille wieder aufgesetzt und nahm ihnen gegenüber Platz. »Lydia hat immer ihre Schreibmaschine und nie einen Computer benutzt. Sie war sehr eigenwillig ... Gelegentlich hat sie erste Entwürfe auch handschriftlich gemacht. Aber wenn sie sie getippt hat, dann nie ohne Durchschläge.«
Gemma sah jetzt, daß die Blätter aus dünnem Durchschlagpapier waren.
»Einige dieser Gedichte wurden in ihrem letzten Buch veröffentlicht«, erklärte Vic und faltete die Seiten wieder zusammen. »Aber da sind andere, die ich nie gesehen, geschweige denn gelesen habe.«
»Vielleicht sind es Gedichte aus ihrer Studentenzeit, die sie nicht für gut befunden hat«, gab Kincaid zu bedenken. »Angeblich besaß sie dieses Buch doch seit ihrem ersten Collegejahr.«
»Aber diese Gedichte hier sind besser als ihre besten - sprachlich vollkommen, reif. Außerdem passen sie thematisch genau zu den Gedichten in ihrem letzten veröffentlichten Band.« Vic hielt inne, als wöge sie ihre Worte sorgfältig ab. »Und ich bin sicher, daß sie in diese Anthologie gehören sollten.«
Kincaid sah Gemma an: »Vielleicht hatte sie sie aussortiert. Vielleicht war sie nicht zufrieden.«
»Ausgeschlossen. Lydia hat sich nie etwas vorgemacht. Sie erkannte, wenn etwas schlecht war, und sie wußte, wann sie gute Arbeit geleistet hatte.«
»Was vermutest du also?«
Vic machte eine hilflose Geste. »Ich weiß es selbst nicht.«
»Welchen Grund könnte sie gehabt haben, diese Gedichte nicht zu veröffentlichen?« fragte Gemma.
»Keine Ahnung«, seufzte Vic und fügte dann nachdenklich hinzu: »Eines der Dinge, die ich an Lydia am meisten bewundere, ist, daß sie immer getan hat, was sie tun mußte. Ohne Rücksicht auf die
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