Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
verengt.
»Du bist leicht zu trösten, was, Sportsfreund?« fragte Kin-caid leise. »Vielleicht sollte ich von dir lernen.«
Er goß Gemmas unberührt gebliebenen Whisky in sein Glas und trat erneut ans Fenster. Er sah sein eigenes Spiegelbild, verzerrt durch die Lichter des Hauses gegenüber, fremd und unbekannt.
* 10
In süßer Schwermut schweben über braun und weißer Nacht Gebete; Nachtwinde kreisen sanft im Raum und seh’n dich an, und durch die schrecklich langen Stunden hielten Bäume und Wasser und Hügel die heilige Wache über deinen Schlummer, und legten einen Pfad aus Tau und Blumen, wo des Morgens deine Füße wandeln.
Rupert Brooke aus >Der Zauber<
Gemma wachte mit einem Ruck und rasendem Herzklopfen im dunklen Zimmer auf. Es dauerte eine Weile, bis sie begriff, daß sie in Duncans Bett lag und allein war. Irgendwann jedoch mußte auch er ins Bett gekommen sein, denn sie hatte eine vage Erinnerung an die Wärme seines Körpers und wußte, daß sie das Licht nicht gelöscht hatte.
Sie war im Traum gefallen, war wie in ein dunkles Loch gesackt, und allein die Erinnerung an dieses Gefühl weckte wieder dieselbe schreckliche Angst. Sie sah auf die rote Leuchtanzeige des Weckers. Halb zwei. Sie glitt aus dem Bett, tastete nach etwas Anziehbarem, fand Duncans Morgenmantel, zog den Gürtel fest und machte sich auf die Suche nach ihm.
Kincaid saß mitten im Wohnzimmer auf dem Fußboden, umgeben von Büchern und Papieren. Er trug Jeans und Pullover. Sein Haar war ungekämmt, und eine Strähne hing ihm in die Stirn.
»Was machst du?« fragte Gemma.
Beim Klang ihrer Stimme sah er auf. »Konnte nicht schlafen. Wollte dich nicht stören.« Seine Augen waren vor Müdigkeit gerötet.
»Was ist das?« Gemma setzte sich auf die Kante des Couchtischs und bückte sich, um Sid zu streicheln, der es sich auf dem höchsten Papierstapel bequem gemacht hatte.
Kincaid deutete vage in die Runde. »Vics Manuskript. Und alle Unterlagen über Lydia Brooke, die ich finden konnte.«
»Du hast Vics Papiere mitgenommen?« Gemma war vor Schreck hellwach. »Aber das ist ...«
»Unterschlagung von Beweismitteln? Schon möglich. Das nehme ich auf meine Kappe. Leider habe ich noch keine Ahnung, womit ich anfangen soll.« Er rieb sich das Gesicht. »Ich kann gerade mal Vics Handschrift von Lydias unterscheiden, aber weiter bin ich noch nicht gekommen. Für das Manuskript allein brauchte ich Tage«, fügte er bekümmert hinzu.
»Dann komm doch jetzt ins Bett«, drängte Gemma. »Wir befassen uns damit, wenn wir das Ergebnis der Obduktion kennen. Vorher hat es sowieso keinen Sinn. Du bist völlig übermüdet ... Wer weiß, was dich morgen noch erwartet.«
»Du bist die Stimme der Vernunft, wie immer«, seufzte er. »Ich bin in einer Minute bei dir, Gemma, Liebling. Das verspreche ich.«
Kincaid hielt Wort. Gemma war noch wach, als er leise ins Zimmer trat und sich im Dunkeln auszog. Seine Haut war eiskalt, als er sie flüchtig berührte.
»Du bist ja wie ein Eiszapfen«, murmelte sie, drehte sich um und preßte sich an ihn. Sie fühlte, wie er sich verkrampfte. Gemma fragte sich, ob seine stumme Abwehr etwas mit einem Gefühl von Verrat zu tun hatte. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Vic möchte, daß du allein bist, Liebster«, begann sie behutsam. »Warum darf ich dich nicht wenigstens in den Arm nehmen?«
Er sagte lange kein Wort. »Ich habe Angst«, gestand er endlich. »Ich habe Angst loszulassen. Ich habe sie Jahre nicht gesehen - sie hatte keinen Platz mehr in meinem Leben - aber es hilft nichts. Ich fühle mich, als ob ich einen schrecklichen Verlust erlitten hätte.« Er hielt inne und fügte dann leise hinzu: »Ich hoffe, ich bin auf dem Holzweg, Gemma ... in bezug auf das, was ihr zugestoßen ist. Wenn jemand sie nämlich umgebracht hat, sie dort liegenlassen hat, so daß Kit sie finden mußte, gebe ich keine Ruhe, bis ich denjenigen gefunden habe. Das schwöre ich.«
Die Kompromißlosigkeit dieser Ankündigung machte Gemma angst. Wut konnte man als eine Überreaktion abtun, sie mit tröstenden Floskeln besänftigen. Aber dieser eiskalten Entschlossenheit hatte sie nichts entgegenzusetzen. Sie hatte Vic nur kurz gekannt und empfand trotzdem Trauer. Wie sollte sie da hoffen, seinen Schmerz zu lindern? Hilflos sagte sie: »Denk jetzt nicht daran, Liebster. Es wird alles gut werden.« In ihrem Inneren wußte sie, daß das nur
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