Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
Schuldgefühle ausrichten?
Gemma war schlicht zu müde, um fürs Abendessen einzukaufen. Sie hoffte einfach, daß Hazel für sie und Toby mitgekocht hatte. Anderenfalls mußte sie auf die mageren Vorräte in ihrem Kühlschrank zurückgreifen.
Die Klarinettenklänge des Straßenmusikers vor dem Supermarkt folgten ihr, bis sie in die Richmond Avenue einbog. Dann hallten sie nur noch schwach in ihrer Phantasie nach.
Das feuchte, trostlose Wetter der vergangenen Tage hatte während des Nachmittags aufgeklart, und als sie sich Thornhill Gardens näherte, breitete sich wie ein großes Bettlaken fahles Rosé über den Himmel und dunkelte allmählich bis zu einer einheitlichen Rosarot-Färbung nach. Gegen diesen Hintergrund zeichneten sich die Häuser aus der Zeit der Jahrhundertwende mit düsterer Geometrie ab. Als Gemma ihr Garagenhäuschen erreichte, hatte sie so weit abgeschaltet, daß sie sich notdürftig auf das einstellen konnte, was sie gern als die >Kehrseite< ihres leicht schizophrenen Lebens bezeichnete.
Sie entdeckte Hazel auf der Terrasse. Die Freundin genoß dort den letzten Rest des Sonnenuntergangs, während die Kinder im Garten spielten. Nachdem sie Toby umarmt hatte, sank sie auf den freien Stuhl neben Hazel und seufzte.
Auf dem kleinen Tisch zwischen ihnen standen eine Flasche Sherry und zwei Gläser. Hazel schenkte Gemma ein. »Prost!« sagte sie und hob ihr Glas. »Sieht so aus, als hättest du einen anstrengenden Tag hinter dir.« Sie zog die dicke Strickjacke enger um sich. »Es ist zu schön, um schon ins Haus zu gehen. Die Kinder haben zu Abend gegessen, aber noch nicht gebadet.«
»Hätte auch kaum viel genützt, was?« bemerkte Gemma, denn die beiden Kleinen schaufelten selbstvergessen an einem Matschloch hinter dem Rosenbusch. »Ich mache das nachher.« Sie lehnte sich auf dem alten schmiedeeisernen Stuhl zurück und schloß die Augen. Es würde sie entspannen, den Kindern beim Spielen in der Badewanne zuzusehen und ihre warmen glitschigen Körper im Arm zu halten, während sie sie abtrocknete.
Der Gedanke an Toby brachte das Bild zurück, das sie den Tag über verdrängt hatte - das Bild von Vic, die lachend auf der Veranda stand, den Arm um ihren Sohn gelegt... Und damit kam auch die Angst, die Gemma sich nie eingestehen wollte. Was würde mit Toby passieren, wenn sie starb? Sein Vater war, wie Kits Vater, von der Bildfläche verschwunden. Was kaum ein Nachteil war, da er sich in der Vaterrolle als völlig unfähig erwiesen, sich nie für seinen Sohn interessiert hatte. Sie nahm an, daß ihre Eltern Toby zu sich nehmen und daß er dort Liebe und Geborgenheit finden würde. Trotzdem war es nicht dasselbe. Oder redete sie sich nur ein, unersetzlich zu sein?
Hazel streckte die Hand aus und tätschelte ihren Arm. »Was gibt’s? Erzähl’s mir.«
»Entschuldige«, sagte Gemma betreten. »Ich habe nur nachgedacht.«
»War nicht zu übersehen.«
Gemma lächelte. »Sind wir für unsere Kinder wirklich unersetzlich, Hazel? Oder können sie auch ohne uns einigermaßen glücklich leben, wenn der erste Schock vorüber ist?«
Hazel warf ihr einen schnellen Blick zu. »Kinderpsychologen würden dir vermutlich alle möglichen komplizierten Thesen über Waisen und Halbwaisen erzählen, die darunter leiden, weder eine Beziehung noch Vertrauen aufbauen können. Aber wenn ich ehrlich sein soll - ich weiß es nicht. Manche kommen gut, andere gar nicht mit ihrer Situation zurecht. Es hängt sowohl von der Mutter als auch vom Kind und den Pflegeeltern ab. Für eine verbindliche Wahrheit gibt es zu viele Variablen.« Sie trank einen Schluck Sherry und fügte hinzu: »Du machst dir Gedanken wegen Vics Sohn, stimmt’s?«
»Er geht mir nicht aus dem Kopf«, gestand Gemma.
»Aber das ist doch nicht alles, oder?«
Gemma schüttelte den Kopf. »Nein. Alles deutet darauf hin, daß Vic vergiftet worden ist.« Sie erzählte Hazel von Kincaids Entschluß, Urlaub zu nehmen, und von ihren diesbezüglichen Ängsten. »Er hört nicht auf mich, Hazel. Er ist so verdammt eigensinnig. Und wütend. Er ist sogar böse auf mich, und ich weiß nicht mal, warum ... Er läßt niemanden an sich ran.«
»Laß ihm ein paar Tage Zeit. Er muß das alles erst mit sich selbst abmachen. Vermutlich hat seine Wut mehr Ursachen als nur die Umstände von Vics Tod. Männer drücken Trauer oft durch Wut aus. Ist schließlich meistens die einzige Emotion, die sie sich
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