Deborah Crombie - 05 Das verlorene Gedicht 06 Boeses Erwachen
schuldig, als habe er sie durch sein Schweigen verraten.
»Sei nicht dämlich«, schimpfte er laut mit sich. »Du hast die Frau kaum gekannt.« Aber das half nichts. Tränen bildeten sich unter seinen Lidern. Sie war so bezaubernd gewesen, wie sie auf dem mottenzerfressenen Samtbezug seines Sessels gesessen und seinen Sherry getrunken hatte. In seinem Gedächtnis sah er wieder den Schwung ihres sanft gewellten blonden Haars, als sie den Kopf gedreht und über eine seiner Äußerungen gelacht hatte.
Sie hatte eine Zartheit, die Verlassenheit eines Kindes ausgestrahlt, die ihn irgendwie an Lydia erinnert hatte. Aber sie hatte auch Lydias Entschlossenheit gehabt. Er hatte sofort gespürt, daß sie sich mit vagen Antworten nicht würde abspeisen lassen. Trotzdem hatte er es nicht über sich gebracht, ihr mehr zu sagen.
Auch bei Lydia hatte er letztendlich versagt, wie er alle enttäuscht hatte, die ihm etwas bedeutet hatten.
Plötzlich war der Gedanke, allein in das Pfarrhaus zurückzukehren, unerträglich. Im Kreisverkehr an der Queen’s Road blieb er auf der rechten Spur und fuhr weiter in Richtung Grantchester. Er wollte Nathan besuchen. Nathan hatte sie ebenfalls gekannt. Sie konnten über sie reden, und vielleicht würde dies das hohle Gefühl in ihm vertreiben.
Newnham 4. Juli 1963
Liebste Mami,
ich verstehe Deinen Kummer angesichts meiner Nachricht, aber es ist nichts mehr zu ändern. Ich habe während der Semesterferien so viel zu arbeiten, daß ich es mir nicht einmal leisten kann, nur für ein paar Tage nach Hause zu kommen. Und so gern ich Dich sehen würde, solltest du mich auch nicht besuchen.
Bitte, bitte, mach Dir keine Sorgen um mich. Mir geht es gut. Nur der Druck der Arbeit lastet auf mir. Ich muß einfach bei der Sache bleiben.
Und dann sind da noch meine Gedichte. Nachdem ich einmal in Schwung gekommen bin, muß ich weitermachen, Examen hin oder her, denn schließlich ist das ja das Ziel des ganzen Unterfangens, oder? Alles soll meinem Erfolg als Lyrikerin Vorschub leisten, und wenn ich das Ziel aus den Augen verliere, ist alles umsonst.
Alles Liebe, Lydia
Adam pochte nachdrücklich an die Tür des dunklen Hauses. Es war mehr die Angst vor dem einsamen Pfarrhaus als die Hoffnung, daß Nathan doch noch reagieren würde, die ihn ausharren ließ. Aber gerade, als er tatsächlich aufgeben wollte, hörte er Schritte, und die Tür schwang auf.
Er sah auf einen Blick, daß sein Freund sturzbetrunken war. Nathan hielt sich am Türknauf fest wie ein Ertrinkender, und seine Augen saugten das Licht in sich auf wie ein bodenloser schwarzer Brunnenschacht.
»Nathan?«
Nathan blinzelte, machte den Mund auf und wieder zu, als könne sein Gehirn nur schwer eine Verbindung zu seiner Zunge herstellen. Er versuchte es erneut. »Adam, du bist es«, artikulierte er mühevoll. Wieder blinzelte er wie eine Eule. »Natürlich bist du es. Du weißt, daß du’s bist. Dumm von mir. Komm lieber rein.« Er wandte sich ab, ging den spärlich beleuchteten Korridor entlang und überließ es Adam, die Tür zu schließen und ihm zu folgen.
Adam stolperte im spärlichen Licht unsicher hinter ihm her. Er erreichte die Tür am anderen Ende des Korridors. Seine Augen mußten sich erst an das strahlende Licht im Raum gewöhnen. Im Kamin flackerte ein Feuer. Nathan hatte sich in einen Sessel am Kamin gesetzt, und auf dem Tisch neben ihm glänzte eine Flasche im Schein der Flammen.
Adam tastete sich über den Teppich und setzte sich in den Sessel gegenüber. Er hatte Nathan seit dem Studium nur wenige Male in einem solchen Zustand erlebt, und jedesmal hatte er unter großem seelischen Streß gelitten. Adam glaubte zu wissen, was ihn diesmal zur Flasche hatte greifen lassen.
»Nathan, du hast es schon gehört, stimmt’s? Das mit Vic McClellan.«
»Im College«, sagte Nathan und griff mit unsteter Hand nach der Whiskyflasche. »Dinner ... Fakultätsessen. Hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Mußte mich beim Präsidenten entschuldigen.« Der Rest ging in Lallen unter.
»Du bist mitten im Fakultätsessen gegangen?« fragte Adam, der versuchte, den Sinn der Worte zu verstehen.
Nathan nickte. »Mußte ich. Konnte es nicht glauben, weißt du? Bin hingefahren. Haus war dunkel. Abgeschlossen. Niemand zu Hause.« Er hob die rechte Hand, und Adam sah zum ersten Mal, daß sie notdürftig mit einem blutigen Verband umwickelt war. »Kann nich’ mehr
Weitere Kostenlose Bücher