Decker & Lazarus 08 - Doch jeder toetet, was er liebt
lief mir ein Schauer über den Rücken. Er würde nicht in die Schule kommen, aber ich solle bitte am Abend zur üblichen Zeit in seiner Wohnung sein.
Mir zitterten die Knie, als er mir an diesem Abend die Tür aufmachte. Er trug eine ausgewaschene Jeans und dazu ein schwarzes T-Shirt mit schwarzseidenem Jackett. Sein Haar war im Nacken stufig geschnitten, hing ihm aber vorne lang und ungebändigt in die Stirn. An seinem Hals baumelte ein goldenes Kruzifix. Er nahm mir die bleischweren Taschen ab, die ich dabeihatte.
»Willkommen daheim«, sagte ich.
»Danke.« Er wuchtete die Büchertaschen auf die Küchentheke. »Die sind aber schwer. Beim nächsten Mal lass sie einfach im Auto. Dann trage ich sie rauf.«
Er schenkte mir eine Tasse Kaffee ein und sagte, ich solle mich setzen. Ich zog mir einen Hocker heran. »Wie ist es gelaufen?«
»Reibungslos«, sagte er. »Mit der Arbeit habe ich nie Probleme. Und wie steht’s bei dir?«
»Prima. Allerdings ein bisschen nervös.«
»Und warum?«
»Mr. Hedding hat für nächsten Montag eine Orchesterprobe angekündigt.«
»Welches Stück?«
»Brandenburgisches Konzert Nr. 2. Es ist mir peinlich, vor dir zu spielen.«
»Warum?« Er schenkte sich einen Scotch ein. »Ich höre dich doch nicht zum ersten Mal.«
»Schon, aber jetzt ist es anders. Ich kenne dich.«
»Du siehst ständig, wie ich mich mit dem Lernen abmühe. Mir ist das nicht peinlich. Und dir sollte es das auch nicht sein.«
»Aber das ist etwas anderes.«
»Warum?«
Ich stützte die Ellenbogen auf. »Weil es so … entblößend ist, wie schlecht ich spiele. Und es ist so … exponiert … so vor aller Öffentlichkeit.«
»Das hat dir bisher nie etwas ausgemacht.«
»Weil ich dir hinterher nicht in die Augen sehen musste.«
Chris streckte einen Finger in die Luft, verschwand und kam einen Augenblick später mit einem Geigenkasten zurück. Er nahm das Instrument heraus, stimmte es und winkte mich dann von meinem Hocker herunter.
»Spiel für mich.«
Er hielt mir die Geige hin. Ich sah sie an, als wäre sie ein Unheil bringender Talisman. »Ich habe keine Noten dabei.«
Er setzte sich auf seine Ledercouch und nippte an seinem Drink. »Spiel irgendwas, was du auswendig kannst.«
»Ich kann überhaupt nichts auswendig.«
»Dann zieh einfach nur den Bogen über die Saiten. Irgendeinen Ton, okay?«
Ich seufzte. Ich hatte nur deshalb gute Noten in Musik, weil ich immer pünktlich zu den Proben erschien und alle Arbeiten mitschrieb. An meinem musikalischen Können lag es jedenfalls nicht. Mit rot angelaufenem Gesicht fing ich an, die Saiten zu streichen. Mir zitterten die Hände. So ähnlich musste sich eine Katze anhören, der gerade jemand den Hals umdreht. Ich setzte das Instrument ab und kicherte, aber Chris machte ein völlig ungerührtes Gesicht.
»Mach weiter.«
»Ich weiß doch, was du für ein empfindliches Gehör hast. Wie kannst du das aushalten?«
»Spiel weiter.«
Ich spielte mein Prüfungsstück so gut es ging auswendig. Ich verspielte mich andauernd. Es klang furchtbar. Ich war den Tränen nahe, wartete nur darauf, dass er das Gesicht verziehen würde, aber er saß ungerührt da.
»Spiel’s noch mal.«
»Chris …«
»Spiel es noch mal.«
»Das ist Folter!«
»Spiel es noch mal.«
Ich tat es. Jetzt klang es ein wenig besser, und Chris machte mir ein Kompliment in dieser Richtung. »Kann ich jetzt bitte aufhören?«, fragte ich.
Chris erhob sich von der Couch, nahm die Geige.
»Sie hat einen wunderschönen Klang«, sagte ich. »Ich wünschte, ich könnte dem Instrument gerechter werden. Warum spielst du das Stück nicht mal.«
Er zuckte die Achseln, klemmte die Geige unters Kinn und legte ein Concerto hin, das nicht nur fehlerfrei, sondern auch im Klang perfekt war. Ich sagte ihm, dass ich ihn hasste.
Er lächelte, legte die Geige weg und klopfte dann auf seinen Jackentaschen herum. »Wo hab ich denn … ah, da ist es ja.« Er zog ein kleines, in Geschenkpapier gewickeltes Päckchen hervor. »Vielleicht hasst du mich dann nicht ganz so sehr.« Er gab es mir.
Ich sah erst das Päckchen, dann ihn an.
»Für mich?«
»Ja, für dich. Mach es auf.«
Ich riss das Papier auf. In dem Päckchen waren zwei Ohrstecker mit Perlen. Mein Blick wanderte von ihm zu den Perlen und dann wieder zu ihm zurück. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Ein einfaches Danke reicht. Probier sie an.«
Ich tauschte meine Goldringe gegen milchig-weiße Kugeln ein. »Wie sehen sie
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