Decker & Lazarus 09 - Totengebet
letzten Jahr groß geworden. Er maß inzwischen fast einen Meter fünfundsiebzig, und hätte damit seinen verstorbenen Vater bereits um einige Zentimeter überragt, wie Rina behauptete. Nach den Fotos, die Decker von Yitzchak kannte, war der ältere Junge ein Abbild des Vaters – hatte dasselbe längliche Gesicht, das spitze Kinn und das sandfarbene Haar. Sein Teint war hell und rein. Auf dem Nasenrücken glänzten Sommersprossen. Er hatte dunkle Augen und einen intelligenten Blick. Außerdem war er kurzsichtig wie Yitzchak, trug eine Nickelbrille. Jake dagegen hatte Rinas unglaubliche hellblaue Augen mitsamt ihrer Sehschärfe geerbt.
Die Jungen trugen noch immer ihre Schuluniformen – weißes Hemd und marineblaue Hose. Die Schaufäden, die Zitzits, ihrer Gebetsschals hingen über ihre Hemden, die sie lose über dem Hosenbund trugen. Jake hatte eine gestrickte Scheitelkappe, die Jarmulke, in der Farbe einer Wassermelone auf. Sammy trug eine schwarze Kippa aus Leder, in die sein hebräischer Name in Goldbuchstaben geprägt war.
»Na, wie geht’s, Jungs?«, fragte Decker. »Was macht ihr gerade?«
Sammy legte sein Schulbuch beiseite. »Einen Aufsatz über die Entwicklung des amerikanischen Ideals in den Werken von Mark Twain. Ein echter Stimmungstöter.« Er rieb sich die Augen hinter seinen Brillengläsern und sah Decker an. »Du siehst echt müde aus, Dad. Wie wär’s mit was zu essen? Glaube Eema hat was für dich im Ofen gelassen.«
»Wollt mich wohl loswerden, was?«
»Nein. Dachte nur …« Sammy runzelte die Stirn. »Mann, wenn man mal versucht nett zu sein! Ach, mach, was du willst.« Sein Blick wanderte wieder zu seinen Notizen. Er griff nach einem Leuchtstift und begann Worte anzustreichen.
Decker war verunsichert, wusste nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Jake rettete ihn. »Harter Tag, Dad?«
»Ging eigentlich.«
»Haben die schweren Jungs heute mal eine Auszeit genommen?«
»Nein, das Geschäft läuft immer.«
»Aber keine Promis, die ihre Frauen umgebracht haben sollen?«
»Nein, heute mal nicht.«
»Schade«, seufzte Jake. »Hättest ziemlich cool im Zeugenstand ausgesehen.«
»Danke, aber ich bin da nichts Besonderes.«
»Mann, Dad«, begann Sammy. »Wo ist dein Abenteuergeist geblieben?«
»Abenteuer sind was für die Jungen«, entgegnete Decker. »Ich bin ein spießiger alter Dussel.«
»Du bist kein Dussel«, widersprach Sammy. »Was ist überhaupt ein Dussel?«
»Ein Idiot«, antwortete Decker.
»Nee, ein Dussel bist du wirklich nicht. Definitiv nicht.«
»Im Gegensatz zu spießig und alt.«
»Na besser zu spießig als zu cool.« Jake grinste. »Hast du den Artikel in der Zeitung gelesen? Über den Vater, den man verhaftet hat, weil er dem Vergehen eines Minderjährigen Vorschub geleistet haben soll? Mit der Stripperin?«
»Was war da? Erzähl mal.« Sammys Interesse war geweckt.
Jake zog eine Grimasse. »Ein Vater hat eine Stripperin angeheuert. Zum zwölften Geburtstag seines Sohnes.«
Sam rümpfte die Nase. »Das ist krass.« Er grinste breit. »Ziemlich spaßig, aber krass.«
Jake setzte noch einen drauf. »Einer der Buben hat’s seiner Mutter erzählt. Die Mutter hat sich beschwert. Da haben sie den Typ verhaftet … Blöder geht’s nicht. Der Vater hat gesagt, er habe nur versucht, ein ›cooler Dad‹ zu sein.«
Jetzt fing Sam zu gackern an. »Also, warum kannst du nicht mal so’n cooler Dad sein?«
»Wär bestimmt ein voller Erfolg bei euren Rabbis«, bemerkte Decker.
»Die würden toben, klar«, sagte Jake und lachte. »Aber nur, weil wir sie nicht dazu eingeladen haben.«
Beide Jungen wollten sich ausschütten vor Lachen. Decker lächelte und schüttelte den Kopf. »Wie ihr über Erwachsene redet!«
»Eine ziemlich spießige Bemerkung.« Sam stand auf, gab Decker einen Kuss auf die Backe und klopfte ihm auf die Schulter. »Du brauchst keine Stripperin zu meinem Geburtstag einzuladen, damit ich dich cool finde. Ein Motorrad würde schon genügen.«
Deckers väterliches Grinsen war leicht zu deuten. Es sagte ›Nur über meine Leiche‹. Sam zuckte mit den Schultern. »War nur ein Versuch.« Er setzte sich wieder an seinen Schreibtisch. »Muss noch was tun. Huck Finn ruft!«
Jake warf einen Blick auf seine Hausaufgaben, ein unverständliches Traktat aus dem Talmud. »Schmuli, du hast doch das Baba Kama durchgenommen, oder?«
»Bis zum Erbrechen. Was verstehst du nicht?«
»Alles.«
»Das ist wenig, Yonkie.«
Jake blinzelte auf den klein
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