Deckfarbe: Ein Künstlerroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Mauern erinnerte ihn an Neapel. In einem Arbeiterviertel der italienischen Stadt hatte er in den letzten Jahren seine besten und schönsten Tage erlebt. Bis auch dort der aufkommende Faschismus ihn aus der Stadt vertrieb und nach Venedig hatte ziehen lassen. Die Venezianer hatten ein eher unkompliziertes Verhältnis zu Mussolini und den Fasci di Combattimento, die die Macht im Lande innehatten. Dass er nun in einem faschistischen Land ganz anderer Prägung lebte, sollte ihm erst langsam bewusst werden.
Von all den Stimmen, die ihn vor einem Besuch in Deutschland gewarnt hatten, hatte keine recht behalten. Es wimmelte vor Uniformen, und das Fahnenmeer sowie die Propaganda waren nicht zu übersehen und zu überhören, aber davon, dass Menschen wegen ihrer politischen Meinung verfolgt wurden und Juden aus dem Leben ausgeschlossen waren, hatte Gustave Garoche noch nichts gesehen.
»Dauert es noch lange?«, fragte Aphrodite, die Göttin der Schönheit, in die Gedanken des Malers hinein. »Mir wird kalt.« Zum Zeichen der Kühle zeigte sie auf ihre festen Brustwarzen.
»Nein, wir sind fertig, Sie können sich anziehen, Ihr Geld liegt dort drüben!«
Die Göttin aus dem Meer, die sich inzwischen wieder bekleidet hatte, nahm sich ihr Honorar von der Anrichte, das unter einem Leuchter aus Messing klemmte, und steckte die Scheine in ihre Handtasche. Dann kramte sie einen Zettel aus der prall gefüllten Tasche und reichte ihn Garoche. Der warf einen flüchtigen Blick darauf, sodass das Mädchen erklärte: »Vedova, das bin ich. Ist mein Künstlername. Ich trete da auf.« Mit einem Kopfnicken und der zweiten Ballettposition unterstützte sie die Buchstaben auf dem gelblich gefärbten Reklamezettel.
»Kabarett, Musik und Tanz bis in den frühen Morgen!«, las Garoche.
»Das Modell-Stehen mache ich nur nebenbei, bis ich ein wirklich großes Engagement bekomme.«
»Ja«, bestätigte der Künstler, schon wieder seinen Gedanken nachsinnend. Er sah aus dem Fenster in den Hof. So tief berührten ihn die Erinnerungen an die Stadt seiner schönsten Tage, dass er das Ende der Platte auf dem Grammofon und das sich rhythmisch wiederholende Kratzen der Nadel nicht bemerkte. Fräulein Vedova, die mit bürgerlichem Namen Vera Kroske hieß, erkannte, dass sie einfach nicht nach Neapel gehörte, und verließ leise Zimmer und Wohnung.
Im ›Kakadu‹ ging es längst nicht mehr so wild zu wie in den Zwanzigerjahren vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten. Aber für ein Ehepaar nebst Freunden aus Paderborn waren die Mädchen des Balletts dann doch etwas zu offenherzig gekleidet oder besser gesagt unbekleidet. Das Publikum schickte den Vieren einige deftige Bemerkungen nach, während die Herren ihren Damen in die Garderobe halfen, nicht ohne noch einmal einen verstohlenen Blick zur Bühne auf die Schenkel und halb sichtbaren Popos zu richten.
Dort oben war sie, seine Anadyomene, die Vedova, Fräulein Kroske, die als Dritte von rechts in der Tanztruppe ihre Beine in die Höhe warf. Garoche beobachtete sie mit Künstlerblick und fand, dass sie, im Vergleich zu den anderen Mädchen, um die Hüften ein wenig zu üppig war. Das tat jedoch ihrer Begeisterung für frivole Tänze keinen Abbruch, und sie streckte in der nächsten Position ihren Hintern weiter als die übrigen Mädels dem meist männlichen Publikum entgegen. Belohnt durch anhaltenden Applaus, verließen die Damen die Bühne, und ein Jongleur kam seinerseits mit Messern hantierend dem Publikum bedrohlich nahe.
»Na?«
»Na?«, fragte Garoche zurück. Fräulein Kroske schlug ihm freundschaftlich, aber bestimmt auf den Oberarm.
»Wie war ich? Wie fanden Sie mich?«, fragte die Tänzerin nach einem Kompliment dürstend und setzte sich zu Garoche an den Tisch, abseits des Bühnengeschehens.
Der Maler ließ die etwas zu üppigen Hüften beiseite und lobte die Schwungkraft ihrer Beine.
»Puhh, das tut gut, kommt man ganz schön außer Atem, und einen Durst bekommt man!« Damit hielt die Vedova das soeben in einem Zug geleerte Glas Sekt Garoche erneut vor die Nase und schenkte ihm ihren schönsten Augenaufschlag. Garoche goss aus der Flasche nach und bestellte vorsorglich eine weitere beim Kellner.
»Ich habe noch einen Auftritt, aber erst in einer Stunde.« Damit schlürfte sie an ihrem Glas und Garoche befürchtete, dass sie kein Bein mehr heben könne und hinterrücks die Bühne herunterfiele, wenn sie dem Alkohol in dem Maße weiter zusprach.
»Keine Bange, ich kann was
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