Deckfarbe: Ein Künstlerroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Werke, die großen Meister aufzusuchen, sich inspirieren zu lassen und manchmal auch sein eigenes Schicksal ein wenig zu beklagen.
In diesen Räumen war die Kunstwelt für Garoche noch in Ordnung. Wie oft hatte er die Abbildungen der Werke in Büchern gesehen. Meist waren die Fotografien von schlechter Qualität. Hier, an den Wänden in den hellen Ausstellungsräumen, kamen die Farben erst richtig zur Geltung. Eben dieser ›bolschewistische‹ Kandinsky verstand es wie kein zweiter, die Formen und Farben so zu komponieren, dass einem vom einfachen Betrachten bereits schwindlig wurde. Und auf Kirchners ›Bauern‹ leuchtete der Hintergrund in einem so intensiven Orangerot von der offenen Feuerstelle her, dass man das Gefühl bekam, die Hitze übertrage sich auf den Betrachter.
Wütend auf die bornierten Kunsthändler und Galeristen dieser Stadt wandte sich Garoche zum Gehen. Was wussten die denn schon von Leidenschaft und Größe, Geschäftsmänner, die ihre kalten und leblosen Zieglers als ästhetisch wertvoller über die Kunst eines Kandinsky stellten. Ahnten sie auch nur annähernd den furchtbaren Kampf eines van Gogh? Die Qualen eines Chaim Soutine und das Ringen eines Hodler mit der eigenen Seele um die Kunst? Lauter als er es wollte, verließ er die Ausstellungsräume. Das befriedigende Gefühl, das er sonst hatte, wollte sich nicht einstellen.
Eine Frau hatte einen leichten Hustenanfall, sonst hätte er eine Stecknadel fallen hören können. Weniger rücksichtsvoll verhielten sich eine Gruppe Mädchen in BDM-Uniformen und ihre Führerin bei ihrem Rundgang durch die Ausstellung. Sie trampelten und schlurften, als gehörten sie einer Herde Wasserbüffel an. Dabei sprachen sie so laut, dass die Worte noch einige Räume weiter gut zu verstehen waren. Die Mädelscharführerin machte sich über die Werke an den Wänden lustig und fügte bald bei jeder Bildbetrachtung, die sie verächtlich aus einem Ausstellungsprospekt vorlas, an, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis dieser bolschewistisch-jüdische Schund auf dem Müllhaufen der Kunstgeschichte landet.
Die Aufseher und das Publikum verhielten sich angesichts der unüberseh- und unüberhörbaren Provokation sowie der eindeutigen Drohungen einiger Jugendlicher eingeschüchtert und teilnahmslos. Ein älteres Ehepaar, dem Dialekt nach Amerikaner, betrat den Saal und sah, irritiert durch die Ruhestörung, zu der Gruppe. Die Antwort war eine herausgestreckte Zunge eines der Mädchen. Ein anderes riss demonstrativ den Arm hoch und brüllte »Heil Hitler«. Das Ehepaar verließ daraufhin schnellen Schrittes die Ausstellung. Erst ein couragierter Angestellter des Museums brachte Ruhe in die Gruppe und deutete an, sie sollten sich doch zivilisiert verhalten oder das Gebäude verlassen. Lachend und pöbelnd zog die Gruppe von dannen.
Zu den Klängen Carusos rekelte sich das Mädchen auf den in der Mitte des Ateliers bereitgelegten Kissen und Decken, die als Dekoration für die Wellen des Meeres herhalten mussten. Sie hatte längst vergessen, wozu die Ansicht ihres nackten Körpers dienen sollte, hockend, mit den Armen hinter dem Kopf verschränkt und die Schenkel geöffnet, sodass ihre Scham weit sichtbar war.
»Anadyomene, die aus dem Meer aufgetauchte«, hatte der Maler dem Mädchen erklärt. »Dein Vater ist Zeus, deine Mutter Dione.«
Dass ihr Vater Erich hieß und ihre Mutter Lieselotte und dass sie selbst Tänzerin in einem drittklassigen Kabarett war, störte die Inspiration des Künstlers reichlich wenig. Für ihn stellte sie die Aphrodite dar.
Der breite, senkrecht ausgeführte Strich Sèvresblau, von der linken Schulter hinunter über die Hüfte bis an den Ansatz des linken Oberschenkels, trennte den Körper von der Tiefe aus ungeahnten Weiten. Es sah aus, als sei sie nicht aufgetaucht aus den Meeresfluten, sondern seitlich herausgetreten. Ein breitgestrichenes Orientblau als Hintergrund und Horizont leuchtete in das Atelier hinein und zwang den Betrachter in seiner strahlenden Helligkeit, die Augen von der Scham des Mädchens zu lassen und sich ganz der Farbe zuzuwenden. Doch der Maler hatte das Bild und den Akt aus den Augen verloren und sah an der Kante der aufgezogenen Leinwand auf der Staffelei vorbei hinaus in den Hof. Obwohl dort ein Schild eindringlich das Spielen verbot, konnte Garoche Kinderlachen hören. Diese Stimmen waren die ersten, die er seit seinem Einzug aus dem Hinterhof wahrnahm. Das Schallen der hellen Töne im Quadrat der
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