Deebs, Tracy - Tempest - 01 - Tochter des Meer
dein Wagen?«
»Ich gehe gern zu Fuß.«
»Es regnet.« Himmel, klang ich überzeugend. Aber es würde noch schlimmer klingen, auszusprechen, was ich wirklich dachte, dass nämlich jeden Moment jemand wie ich rücksichtslos um eine Kurve schlittern und ihn auslöschen könnte.
Meine mangelnde Überzeugungskraft schien ihn nicht zu stören, während er die wenigen Schritte zu mir zurückkam. »Regnen würde es mit oder ohne Auto.« Er sah hinauf in die Sturzbäche, die sich nach wie vor vom Himmel ergossen. »Aber pass auf dich auf. Die Straßen sind rutschig.«
»Brauchst du -« Erschrocken darüber, dass ich jemandem, den ich gar nicht kannte, um ein Haar angeboten hätte, ihn mitzunehmen, verkniff ich mir den Rest. Wo war nur mein Selbsterhaltungstrieb geblieben?
Aber er winkte nur und machte sich wieder auf den Weg.
»Kona!«, rief ich ihm abermals nach. Diesmal drehte er sich nicht um, er stockte nicht einmal, während er die glatte, tückische Straße entlangging.
Ich sah ihm ein, zwei Minuten lang nach, bis ich ihn im Regen kaum noch erkennen konnte. Dann blinzelte ich ein paarmal und wischte mir das Wasser aus den Augen, um für mein geistiges Poesiealbum ein letztes, klares Bild von ihm abzuspeichern. Doch als ich wieder hinsah, war er verschwunden. Ich kniff die Augen zusammen, suchte nach dem verräterischen roten Aufblitzen. Nichts! Er war verschwunden, als hätte es ihn nie gegeben.
Erst als ich im Auto saß und an den Heizungsreglern herumdrehte, wurde mir klar, dass mir nicht ein Mal kalt gewesen war, solange er mich berührt hatte.
5
In dieser Nacht, und in allen weiteren Nächten der restlichen Woche, hatte ich merkwürdige Träume. Alle begannen auf die gleiche Weise. Ich surfte durch eine absolut perfekte Tube und machte meine Sache richtig gut. Ich war mitten im Greenroom, dem Inneren der Welle, das Wasser rings um mich herum: über meinem Kopf, unter meinem Board und zu beiden Seiten. Nur vor und hinter mir war die Röhre offen.
Ich ritt die Tube ganz ab und hatte riesigen Spaß dabei, doch statt geduckt aus ihr herauszufahren, wie mein Dad es mir beigebracht hatte, wurde ich darin eingeschlossen, als die Welle um mich herum brach. Ich suchte einen Weg nach draußen, versuchte ans Ufer zurückzukommen, doch das Wasser zog mich immer tiefer und tiefer hinab.
Ich brauchte kein Diplom in Psychologie, um zu wissen, dass jeder, dem ich von diesem Traum erzählte, ihn darauf zurückführen würde, dass ich fast ertrunken war. Und wahrscheinlich hätten sie recht damit. Nur dass dieser Traum - und das war der Clou daran - noch eine ganz andere Dimension besaß.
Das Ausmaß dieser Dimension war es, was mich jede Nacht Löcher in die Luft starren und verzweifelt darum kämpfen ließ, nicht einzuschlafen. Natürlich verlor ich den Kampf Nacht für Nacht und wurde nicht nur unter die Oberfläche gezogen, sondern in eine Welt, die ich mir nie vorzustellen erlaubt hatte.
Meine Mutter war dort, ebenso wie eine Anzahl anderer Wassernixen - und Kona. Sie schwammen zwischen alten Flugzeugen und Schiffswracks auf dem Meeresgrund herum, spielten mit farbenprächtigen Fischschwärmen und bauten hoch aufragende Burgen aus Korallen und Sand.
Im Großen und Ganzen hätte es ein beruhigender Traum sein müssen, das Versprechen kommenden Glücks, wenn es zum Schlimmsten kam und ich den Kampf um meine menschliche Identität verlor. Doch all das Lachen und die leuchtenden Farben waren mit einer Dunkelheit unterlegt, die mir Angst machte. Sie schien über den Meeresboden zu kriechen und auf ihrem Weg alles und jeden einzuhüllen.
Ich hatte diese Dunkelheit schon zwei Mal gefühlt: In jener längst vergangenen Nacht, als ich zehn war und mich einer Kreatur gegenübersah, die ich nicht einmal annähernd begreifen konnte. Und letzte Woche, als ich vom Surfbrett gefallen war und fast ertrunken wäre.
Dass ich sie jetzt wieder spürte, wo so vieles auf dem Spiel stand, machte mich misstrauisch - selbst im Schlaf. Und die Tatsache, dass Kona irgendwie darin verwickelt war, und sei es nur in meinem Unterbewusstsein, verstärkte meine Nervosität noch.
Ich wachte jedes Mal an der gleichen Stelle des Traums auf, hatte rasendes Herzklopfen und aus unerklärlichen Gründen liefen mir Tränen über das Gesicht. Es war verdammt beängstigend. Vor dieser Woche hätte ich an einer Hand abzählen können, wie oft ich seit dem Weggang meiner Mutter geweint hatte, aber jetzt war es, als könnte ich gar nicht mehr
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