Deebs, Tracy - Tempest - 01 - Tochter des Meer
achtzig groß war, überragte er mich deutlich. Er sah umwerfend aus, so umwerfend, dass ich ihn einfach nur anstarren konnte. Das schien ihm zum Glück nichts auszumachen, stattdessen tat er das Gleiche mit mir.
Er hatte das Gesicht eines gefallenen Engels, das betörendste Gesicht, das ich je gesehen hatte. Es war wie gemeißelt, perfekt modelliert, so schön, dass ich die Hand ausstrecken und ihn berühren wollte, nur um mich zu vergewissern, dass ich ihn mir in meiner ganzen konfusen Angst nicht eingebildet hatte.
Sein langes Haar hing ihm in feuchten Strähnen um das Gesicht und seine Topasaugen betrachteten mich mit einer aufreizenden Intensität, die der Leichtigkeit, mit der er auf dem Surfbrett gestanden hatte, zu widersprechen schien. Er trug eine seltsame Kette, ein Lederband, an dem eine Art Beutel befestigt war, und über seine Oberarme wanden sich eigenartig leuchtende schwarze Tattoos in einem verschlungenen Muster aus Symbolen, wie ich sie noch nie gesehen hatte und die alles andere als alltäglich wirkten. Das Muster wiederholte sich auch auf seinen breiten Schultern. Es juckte mich in den Fingern, ihn zu malen.
Wer war er und warum hatte ich ihn hier draußen noch nie gesehen? Jemand, der so gut surfte wie er, musste jeden Tag einige Stunden auf dem Brett verbringen, um auf der Höhe seiner Kunst zu bleiben. Das hier war zwar nicht mein üblicher Strand, aber ich surfte hier oft genug, um die meisten Hardcore-Surfer zu kennen.
»Hallo«, sagte er mit einem Grinsen. »Was machst du hier draußen? Es ist ziemlich chaotisch heute.«
Mein Herzschlag geriet ins Stolpern. »Das wollte ich dich auch gerade fragen. Wer surft schon bei diesem Wetter?«
Er zuckte gutmütig die Achseln. »Jemand, der weiß, was er tut.«
»Oder jemand, der lebensmüde ist. Du hättest da draußen umkommen können!« Ich konnte kaum glauben, was ich gerade von mir gab und wie schroff ich dabei klang. Was war nur los mit mir?
»Ich bin raus, bevor es so schlimm wurde. Damit habe ich nicht gerechnet.« Er fröstelte und ich bemerkte erst jetzt, dass er keinen Surfanzug trug.
»Tut mir leid. Du musst am Erfrieren sein.« Ich trat zurück, um ihm Platz zu machen, aber er rührte sich nicht, betrachtete mich einfach nur mit diesem intensiven Blick, der mich gleichzeitig fahrig und seltsam ruhig werden ließ.
»Mir geht’s gut.«
»Willst du nicht ins Trockene?«
»Ich mag Wasser. Du nicht?«
Mein Magen schlug Purzelbäume, obwohl ich nicht wusste, ob es an der wissenden Art lag, mit der er mir diese Frage gestellt hatte, oder daran, dass ein Teil von mir darüber nachdachte, wie es sich wohl anfühlen würde, von seinen Lippen berührt zu werden. Vermutlich war es eine Mischung aus beidem.
Mark, rief ich mir ins Gedächtnis und trat im Geiste einen riesigen Schritt zurück. Trotz unseres Streits vorhin war ich mir ziemlich sicher, dass er kein Verständnis dafür haben würde, wenn ich einem anderen Surfer schöne Augen machte. Schon gar nicht, wenn er so aussah.
Das entspannte Gefühl verflog so schnell, wie es gekommen war.
»He, ist alles in Ordnung mit dir?«
»Mir geht’s gut.« Warum wurde ich das ständig gefragt? Sah ich wirklich so schlimm aus?
Seine Stimme klang wie Kies und Salzwasser und warmer, süßer Sirup zusammen, als er sagte: »Du hast blaue Lippen und bist nass bis auf die Haut. Aber ansonsten siehst du toll aus.«
Er hatte mir so gelassen geantwortet, dass ich einen Moment brauchte, um zu begreifen, dass ich die Frage gar nicht laut ausgesprochen hatte. Plötzlich wurde mir unheimlich zumute und ich wich vor ihm zurück, als wären ihm auf einmal riesige Vampirzähne gewachsen.
»Ich muss gehen.«
»Okay.« Er sah zur Straße hinauf. »Ist das dein Auto dort oben?«
»Ja.« Ich steckte die Hand in die Tasche, bereit die Notrufnummer aus ganz anderen Gründen zu wählen.
»Ich bringe dich hin. Die Steine sind hier bei Regen ziemlich glatt.«
Ich hätte ihm widersprechen sollen. Schließlich kannte ich den Kerl gar nicht, und egal, was er sagte, er war nicht von hier. Er konnte ebenso gut ein durchgeknallter Serienmörder sein, der seine Opfer an einsamen Stränden auflas. Doch sobald er meinen Ellbogen berührte, durchströmte mich eine seltsame Wärme und ich ging mit ihm, trotz der Stimme in meinem Kopf, die unentwegt Nein schrie.
Er half mir den Abhang hinauf, den ich kurz zuvor heruntergestolpert war, und mit seiner Hilfe wurde der Aufstieg deutlich leichter. Ich beobachtete ihn
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