Deer Lake 02 - Engel der Schuld
dem Fenster starren sah, mußte sich Hannah fragen, ob er sich genauso fühlte.
Ein plötzlicher Impuls führte sie durch die Küche in Pauls makelloses häusliches Büro. Er mußte das Zimmer erst noch ausräumen, aber der Tag würde wohl kommen, an dem er seine Hälfte ihres gemeinsamen Besitzes einpacken und wegbringen würde.
Hannah fand, wonach sie suchte, in einem Fach im Schrank, in dem Paul Material aufbewahrte – ein nagelneues blaues Ringbuch. Aus dem Becher auf dem Schreibtisch nahm sie den am auffälligsten aussehenden Stift, den sie finden konnte – einen dicken roten mit einem verrückten blauen Clip und einer abnehmbaren Kappe. Dann verließ sie das Büro und ging in den Wäscheraum, wo sie in einer Schublade Geschenkpapier, Band und Schnur und Aufkleber aufbewahrte. Sie kramte die Aufkle ber durch und traf eine Auswahl, die, wie sie wußte, Josh gefallen würde, und verzierte damit den Deckel des Ringbuchs. Dann schrieb sie mit einem Wäschestift sorgfältig Joshs New Think Pad quer über den Deckel, und ganz unten schrieb sie F ü r Josh von Mom und malte ein Herz dahinter.
Er saß immer noch am Fenster, als sie ins Wohnzimmer zurückkam. Lily hatte alles Interesse an dem Film verloren und war damit beschäftigt, Spielsachen aus der Kiste zu zerren.
»Josh, Schätzchen«, sagte Hannah und legte eine Hand auf seine Schulter. »Ich habe was für dich. Setzt du dich mit mir auf die Couch, damit ich es dir geben kann?«
Er sah hoch zu ihr, weg vom Fenster und der düsteren Ansicht des Sees, dann nahm er seinen Rucksack auf und ging zur Couch. Er lehnte sich in eine Ecke zurück, den Rucksack auf dem Schoß, die Arme fest darum geschlungen, als wäre er sein liebster, alter Teddybär. Hannah nutzte die Gelegenheit, um die Vorhänge zu schließen, seinen Hocker ließ sie aber stehen. Sie setzte sich neben ihn, widerstand dem Drang, ihn an sich zu ziehen. Dr. Freeman hatte ihr eindringlich klargemacht, wie wichtig es war, Josh ein bißchen Freiraum zu geben, obwohl sie ihn am liebsten vierundzwanzig Stunden am Tag festgehalten hätte.
»Erinnerst du dich an dein Think Pad und daran, wie es verlorenging?« fragte sie.
Josh nickte, hatte aber nur Augen für die Baseballmütze, die Lily auf den Boden geworfen hatte.
»Ich weiß noch, wie du dauernd in das Buch geschrieben und gezeichnet hast. All die tollen Bilder, die du von Raumschiffen und solchen Sachen gemacht hast. Und da ist mir der Gedanke gekommen, daß es dir wahrscheinlich immer noch fehlt. Der Skizzenblock, den du hast, ist natürlich ziemlich cool, aber doch irgendwie recht groß, nicht wahr? Er paßt nicht in deinen Rucksack. Also . . . tata!« Sie hielt ihm das neue Ringbuch hin. »Joshs Neues Think Pad. «
Hannah hielt den Atem an, als er es ansah. Zuerst machte er keine Anstalten, es zu nehmen, aber er sah sich das Deckblatt von oben bis unten an, die Sticker vom Raumschiff Enterprise und von den Footballhelmen und von Batman. Er strich mit dem Finger den Titel entlang und dann bis nach unten. F ü r Josh von Mom . Er öffnete die Hand und streichelte die Zeile, mit traurigem, sehnsüchtigem Gesicht.
»Los, mein Schatz«, flüsterte Hannah mit zugeschnürter Kehle. »Es gehört dir. Es ist nur für dich. Du kannst aufschreiben, was immer du willst – Geschichten oder Geheimnisse oder Träume. Du mußt es nie mit jemanden teilen, wenn du nicht willst. Aber wenn du es mit mir teilen willst, dann weißt du ja, daß ich dir zuhören werde. Du kannst mir alles erzählen, was du willst, das ist in Ordnung. Wir können mit allem fertig werden, weil wir uns liebhaben. Richtig?«
Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er sah das Notizbuch an und nickte langsam, zögernd. Hannah hätte zu gern gewußt, welcher Teil ihrer Rede ihn hatte zögern lassen. Zweifelte er daran, daß er ihr alles erzählen konnte, oder daran, daß sie mit allem fertig werden konnten? Sie hatte keine Möglichkeit, es herauszufinden. Sie konnte ihm nur Unterstützung und Ruhe bieten und zu Gott beten, daß die Versprechungen, die sie machte, keine leeren Versprechungen waren.
Als er ihr das Notizbuch aus der Hand nahm, zog sie ihn an sich und küßte ihn auf das Haar.
»Wir werden tatsächlich damit fertig werden, Josh. Egal, wie lange es dauert. Es spielt keine Rolle«, flüsterte sie. »Ich bin einfach so glücklich, daß ich dich wieder zu Hause habe und dir sagen kann, wie sehr ich dich liebhabe.« Sie rutschte ein bißchen von ihm weg und schnitt eine
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