Deer Lake 02 - Engel der Schuld
sie noch mehr Fälle als den von Garrett Wright auf dem Tagesplan hatte. Es gab da einige lose Fäden, die verknüpft werden mußten, und dann waren da noch Quentin Adlers endlose Fragen zu den beiden Fällen, die sie ihm übergeben hatte. Aber sie hatte weder Appetit auf die Arbeit noch auf das Truthahnsandwich, das sie sich zum Abendessen geholt hatte. All ihre Funktionen drohten, aus Mangel an Nährstoffen zu versagen, aber beim Gedanken ans Essen wurde ihr übel.
Aus der Ü bung. Als sie in Minneapolis gearbeitet hatte, war sie an einen Punkt gekommen, wo sie direkt von einem Mordschauplatz zum Abendessen gehen konnte, ohne sich deshalb Gedanken zu machen. Das Bewußtsein war eine erstaunliche Einrichtung, es konnte die Schutzmechanismen entwickeln, die es brauchte. Aber es war lange her, daß sie diese Schutzmechanismen gebraucht hatte.
»Laß es für heute gut sein«, murmelte sie und warf einen Blick auf die Uhr. Viertel nach neun. Der arme Harry sah sein Frauchen in letzter Zeit nur selten. Wenigstens hatte er Otto. Otto Norvold, ihr Nachbar und auch ein Hundenarr, hatte nichts dagegen, sich um Harry zu kümmern, wenn Ellen bis spät in die Nacht arbeiten mußte.
Sie sortierte den Stapel Akten vor sich, nahm die, die mit Wright zu tun hatten, und zwei von anderen Fällen, mit denen sie sich am nächsten Tag beschäftigen mußte – einem Einbruch, bei dem sie erwartete, daß der Angeklagte auf Bewährung freikommen würde, und einem DUI, bei dem sie den Angeklagten so lange wie möglich ins Gefängnis stecken würde. Die Akten wanderten in ihre Tasche, dann machte sie sich an ihr tägliches Ritual: alles, was noch auf ihrem Schreibtisch lag, wurde präzise geordnet. Sie hatte vor langer Zeit gelernt, daß ihr Büro der einzige Platz in ihrem beruflichen Leben war, über den sie jederzeit völlige Kontrolle haben konnte. Sie widmete sich dem Ritual mit geradezu religiöser Hingabe und fand es wesentlich beruhigender als das sinnlose Harken in einem Zen-Garten.
Nachdem die Aufgabe zu ihrer Zufriedenheit erledigt war, schob sie den Stuhl an den Schreibtisch und kramte in ihren Taschen nach den Handschuhen. Im Kopf war sie schon auf halbem Weg aus dem Gebäude, sie fragte sich, wieviel Schnee wohl in den zwei Stunden seit ihrer Rückkehr gefallen war. Zehn bis fünfzehn Zentimeter hatte man vorausgesagt. Die Straße von Campion zurück war bereits teilweise zugeweht gewesen.
Sie holte ihre Schlüssel heraus, schwang die Tasche über die Schulter und wollte gerade zur Tür, als das Telefon klingelte.
»Was jetzt?« stöhnte sie. Sie redete sich ein, nur genervt zu sein, doch sie fürchtete das Schlimmste.
»Ellen North«, sagte sie in den Hörer.
Nichts.
»Hallo?«
Es war genauso wie Montag nacht – das lastende Gefühl einer Präsenz am anderen Ende der Leitung, ein Schweigen, das bedrohlich schien. Ihr drehte sich der Magen um, als der Satz des Anrufs von gestern nacht durch ihren Kopf zog. Das erste, was wir tun: wir bringen alle Anw ä lte um.
»Wenn Sie etwas zu sagen haben, dann sagen Sie's«, sagte sie ungehalten. »Ansonsten ist mir meine Zeit zu schade.«
Ein Atemzug. Leise und lang. Er schien aus dem Hörer zu kriechen und sich um ihren Hals zu schlingen. »Ellen . . .«
Das Flüstern war kaum mehr als eine Ahnung. Androgyn. Dünn wie Gaze.
»Wer ist da?«
»So spät noch am Arbeiten, Ellen?«
Sie knallte den Hörer auf die Gabel. Mitch hatte an ihrem privaten Telefon eine Fangschaltung installiert, aber es gab nichts dergleichen bei den Bürotelefonen, und sie hatte auch ihre Zweifel an der Legalität einer solchen Installation.
Der Anruf war auf ihrer Direktleitung gekommen, die Nummer stand in keinem öffentlichen Telefonbuch. Hieß das, daß der Anrufer jemand war, den sie kannte, oder jemand, der ohne ihr Wissen in ihrem Büro gewesen war? Die Geschäftszeit war längst vorbei. Hatte der Anrufer sie zufällig hier erwischt, oder wußte er, daß das einzige Licht im ganzen Gebäude aus ihrem Büro kam?
» Das erste was wir tun: wir bringen alle Anw ä lte um . . . «
» So sp ä t noch am Arbeiten, Ellen? «
Sie warf einen Blick auf ihr Fenster. Selbst mit heruntergelassenen Rolläden war ihr Licht draußen sichtbar. Sie hob die Rollos an einer Seite an und versuchte hinauszuspähen, aber außer einer seltsamen Mischung von Nacht und wirbelndem Schnee war nichts zu sehen.
» Ihr Bo ß sollte mal mit jemandem ü ber Sicherheitsma ß nahmen reden. Das ist ein h ö chst explosiver
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