Deer Lake 02 - Engel der Schuld
Freude, Sie kennenzulernen, Hannah«, sagte er. »Pater Tom hat recht. Sie sind ein außergewöhnlicher Mensch. Ob Sie das nun gern hören oder nicht.«
Eine tiefe Traurigkeit verdüsterte ihre Augen. »Aber das genau ist es ja, was ich meine, Mister Brooks – ich will keine Heldin sein. Ich will nur unser früheres Leben zurückhaben.«
So wie es aussieht, wird das noch einige Zeit dauern, dachte er voller Mitleid, als er durch die Haustür ging und ein Reporter, der mit einem Toyota auf der Straße parkte, ihn fotografierte.
»Sie hat nicht verdient, was ihr geschehen ist«, sagte Pater Tom, als sie wieder im Cherokee saßen.
War es nicht die Aufgabe eines Priesters zuzuhören, wenn seine Gläubigen mit den Grausamkeiten der Welt haderten? dachte Jay. Tom McCoy hatte anscheinend mehr Fragen als Antworten, eine Last, die ihm sichtlich schwer auf der Seele lag.
»Meiner Erfahrung nach, Pater«, sagte Jay, »ist das Leben eine Splitterbombe, die ihre Grausamkeit willkürlich streut. Darin einen Sinn zu suchen bewahrt uns entweder unsere Menschlichkeit, oder es macht uns verrückt.«
Pater Tom sagte nichts, holte nur Joshs Zettel aus seiner Jackentasche und faltete ihn auseinander.
Die Zeichnung war einfach: ein trauriges Gesicht mit leeren dunklen Augen, in die Mitte eines mit Tinte geschwärzten Vierecks gesetzt. Die Unterschrift brach ihm das Herz. Als ich verloren war.
Josh war nicht der einzige, der in diesem Martyrium verloren gewesen war. Verlorene Leben, verlorene Liebe, verlorenes Vertrauen . . . Verlorener Glaube. Tom hatte versucht, einen Sinn darin zu entdecken, hatte um etwas Trost gebetet, aber alles, was er empfunden hatte, war Angst, während ihm der Glaube, der der Anker seines Lebens gewesen war, weiter und weiter entglitten und das einzige, was er hatte festhalten wollen, die Frau eines anderen Mannes gewesen war.
Als ich verloren war . . .
Er faltete den Zettel und steckte ihn zurück in seine Jackentasche.
Die Beerdigung zog sich endlos hin. Victor Franken hatte in seinen neunundsiebzig Jahren zahllose Bekannte gewonnen, und keiner von ihnen scheute sich, seinen Tod zum Anlaß zu nehmen, seine Redekünste unter Beweis zu stellen. Das Wetter hatte Trauergäste aus anderen Staaten an der Anreise gehindert, was die Einheimischen zu noch größerer Weitschweifigkeit animierte.
Ellen saß ziemlich weit hinten in der Grace Lutheran, fächelte sich mit ihrem Programm Luft zu und fragte sich, ob die Hitze vom Ofen kam oder ob sie schlicht ein Nebenprodukt der Anwesenheit so vieler Anwälte an einem Ort war.
In der Vorhalle drängten sich Reporter, lagen auf der Lauer, um Leute, die die Kirche verließen, um Kommentare anzugehen. Frankens Verwandte saßen in den vorderen Bänken, einschließlich seines Enkels aus Los Angeles, der die Zeremonie mit einem schwer zu interpretierenden liturgischen Tanz eingeleitet hatte, bei dem die Einheimischen sich auf ihren Sitzen wanden. Die Menschen in Minnesota drückten sich nur selten mit ihren Körpern aus, und niemals trugen sie dabei schwarze Trikots.
Das Leben in Deer Lake hatte inzwischen Züge eines Fellini-Films angenommen, und Rudy Stovich spielte den traurigen Clown. Er stand auf der Kanzel, und seine Stimme hob und senkte sich im Takt mit den dramatischen Veränderungen auf seiner Miene.
Mike Lumkin, ein Anwalt aus Tatonka, beugte sich zu Ellen und flüsterte: »Wenn er sich so am Richtertisch aufführt, gehe ich ins Immobiliengeschäft.«
»Drücken Sie die Daumen«, flüsterte sie zurück. »Vielleicht wird er vom Fernsehen entdeckt.«
»Dann verkaufe ich meinen Fernseher«, sagte er und verzog das Gesicht. »He, wir sollten uns über Tilman einigen. Was halten Sie von einem kurzen Arrest?«
»Ich glaube, Sie träumen. Arrest und achtzig Stunden Sozialarbeit.« Seine Augen traten aus den Höhlen. »Achtzig?«
»Neunzig?«
»Sechzig.«
»Hundert.«
»Achtzig klingt gut«, sagte er einlenkend und lehnte sich zurück, als sich Rudy in den letzten Teil seiner Eloge stürzte.
Ellen unterdrückte einen Seufzer. Sie versuchte alles um sich herum auszuschalten, um Richter Franken ihren ganz persönlichen Tribut zu zollen. Er war ein guter Mann, ein guter Richter gewesen, man würde ihn vermissen.
Die Beerdigung mußte aufgeschoben werden, bis Tauwetter herrschte. Nach dem abschließenden Gebet und drei Strophen von » Abide with Thee « , marschierte die Trauergemeinde in den Keller der Kirche, wo der Lutherische Damenverein Kuchen und
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