Deer Lake 02 - Engel der Schuld
das Papier auf ihren Schreibtisch fallen, schoß aus dem Stuhl hoch und machte einen Satz weg von ihrem Schreibtisch. Der Telefonhörer fiel klappernd gegen die Schubladen und baumelte hin und her.
»Miss North? Sind Sie da? Miss North? Hallo!«
suche S f ü r S ü nde . . . sieh, wo wir gewesen sind . . .
»O Gott« flüsterte sie und sah sich voller Panik in ihrem Büro um. Ihre Zuflucht. Der einzige Ort in ihrem Berufsleben, an dem sie das Gefühl hatte, absolut alles unter Kontrolle zu haben Ihr Blick landete auf den Aktenschränken.
suche S f ü r S ü nde . . .
Sie riß zitternd eine Lade auf und blätterte die Akten durch. Eine stand hervor – sauberer, steifer, unbenutzt. Das Wort »Sünde« in dicken Lettern auf dem Etikett.
Er war in ihrem Büro gewesen. Der Mistkerl war in ihrem Büro gewesen.
Sie legte die Akte auf die anderen im offenen Schrank und schlug sie auf. Aus dem kleinen Viereck einer Polaroidaufnahme starrte sie mit leeren, ausdruckslosen Augen Josh Kirkwood an.
22
Der Tag war ihr schier endlos erschienen, und dennoch kam die Nacht zu früh. Dieser Widerspruch, dachte Hannah, war nur ein Spiegel ihres inneren Zwiespalts. Sie konnte sich nicht vorstellen, Josh und Lily allein zu lassen, trotzdem fehlte ihr ihre Arbeit ganz schrecklich. Sie vermißte das Krankenhaus und die Leute, ihre Patienten, ihre Mitarbeiter, ihre Freunde, die Routine, den lästigen Papierkram. Am meisten fehlte ihr die Hannah, die sie bei der Arbeit war. Ihre geistige Stärke und ihre Willenskraft hatte sie offenbar mit dem weißen Kittel und dem Namensschild daran abgelegt.
Sie hätte nie geglaubt, sich über ihre Arbeit zu definieren. Es ging nicht darum, wer sie war, sondern um das, was sie tat. Aber ohne diesen Rahmen, den ihr die Arbeit lieferte, fühlte sie sich verloren. Und mit diesem Gefühl kamen auch die Schuldgefühle wieder. Sie war nicht nur Ärztin, sie war Mutter. Ihre Kinder brauchten sie. Warum war sie mit dieser Rolle nicht zufrieden?
Der Fluch der Frauen der Neunziger, dachte sie und versuchte krampfhaft, ihren Sinn für Humor wiederzufinden. Ein vergeblicher Kampf. An diesem Tag hatte es nur wenig zu lachen gegeben, und es konnte nur noch schlimmer kommen.
Das Wetter hatte sie gezwungen, Joshs Termin bei Dr. Free-man abzusagen. Ein Freund aus dem Krankenhaus hatte angerufen und ihr erzählt, daß Dr. Lomax der Verwaltung in den Ohren lag, um offiziell zum vorläufigen Leiter der Notaufnahme ernannt zu werden – ein Zustand, dem er sicher gern Dauerhaftigkeit verleihen wollte. Leiter der Notaufnahme – bei der Beförderung vor einem Monat war er übergangen worden, man hatte Hannah mit dem Amt betraut. Sie war besorgt, daß er tatsächlich Gehör finden könnte. Doch gleich darauf geißelte sie sich im Geiste dafür, daß sie für einen Augenblick imstande gewesen war, ihre eigenen Interessen über die ihres Sohnes zu stellen.
Ellen North hatte angerufen, um ihr zu sagen, daß es ein weiteres Indiz gegen Wright gäbe, aber auch, daß Garrett Wrights Anwalt Zugang zu Joshs Krankenblättern fordere, ein Trick, um die Aufmerksamkeit von Wright auf Paul zu lenken.
Und Jay Butler Brooks wollte über all das ein Buch schreiben.
Ein fürchterlicher Tag.
Costellos Vorwurf saß wie eine große, schwarze Ratte in ihrem Kopf und nagte an ihren Nerven. Er unterstellte, Paul hätte Josh mißhandelt – ein Vorwurf, den sie schlichtweg von der Hand wies. Paul würde seinen Kindern nie absichtlich weh tun. Er glaubte nicht mal an die heilsame Wirkung des üblichen Klapses auf den Po. Und trotzdem, wie oft hatte sie in letzter Zeit das entsetzliche Gefühl gehabt, daß er ein Fremder geworden war? Er hatte sie belogen, hatte die Polizei belogen, war Fragen ausgewichen und hatte sich in der Pose selbstherrlicher Empörung gefallen.
Sie erinnerte sich nur allzugut daran, wie Megan O'Malley sie Pauls wegen vernommen hatte, nachdem man Joshs Jacke an der Ryan's Bay gefunden hatte.
» Wann ist Ihnen zum ersten Mal aufgefallen, da ß er sich ver ä ndert hat? . . . Hat er sich in letzter Zeit mehr zur ü ckgezogen? . . . Ignoriert er normalerweise seinen Anrufbeantworter, wenn Sie ihn abends im B ü ro anrufen? «
» Warum stellen Sie mir diese Fragen? Sie k ö nnen doch unm ö glich glauben, da ß Paul etwas damit zu tun hat? «
» Reine Routine . . . Selbst Mutter Teresa br ä uchte ein Alibi, wenn sie hier w ä re. Wenn wir diesen Kerl erwischen, wird sein Anwalt wahrscheinlich versuchen, es einem
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