Deer Lake 02 - Engel der Schuld
daß sie, als sie ihm in die Augen sah, etwas Altes und Trauriges zu erkennen glaubte, etwas wie Bedauern. Quatsch, sagte sie sich. Er war nicht der Typ Mann, der etwas bedauerte. Er verfolgte seine Ziele gnadenlos, und er erreichte sie, und sie bezweifelte, daß er je zurücksah.
»Gute Nacht, Ellen«, murmelte er, und es klang so vertraut, als würden sie sich schon ein Leben lang kennen. »Ruhen Sie sich aus. Sie haben es verdient.«
Er sah ihr direkt in die Augen, beugte sich zu ihr und küßte ihre Wange. Kein flüchtiger, unpersönlicher Kuß, sondern ein warmer intimer Druck seiner Lippen auf ihrer Haut, der sie dazu verführte, sich ihm zuzuwenden – eine Einladung zum Kuß auf ihren Mund. Die Vorstellung traf sie wie ein elektrischer Schlag und löste eine Flut verbotener Fragen aus. Was wäre es für ein Gefühl, diesen seinen unglaublichen Mund . . .
Sie schlug im Geiste die Tür zu dieser Vision zu, brachte sich in die Wirklichkeit zurück, beschämt, daß ein einfacher Kuß auf die Wange ihren Puls zum Rasen bringen und ihre Vernunft aus den Angeln heben konnte. Der wissende Blick von Brooks genügte schon, am liebsten hätte sie ihm die Tür vor der Nase zugeschlagen.
»Süße Träume, Ellen«, flüsterte er und schlenderte hinaus in die Nacht.
Ellen stand in der offenen Tür und verschränkte die Arme gegen die Kälte, während sie beobachtete, wie er die Straße überquerte und in einen dunklen Cherokee-Jeep stieg. Der Motor erwachte röhrend zum Leben, und er war weg, doch die nervöse Ratlosigkeit, die er geweckt hatte, blieb.
Er verstand es, sie ständig aus dem Gleichgewicht zu bringen – mal charmant, im nächsten Augenblick besorgt, dann verführerisch, dann berechnend. Sogar der Artikel, den sie über ihn gelesen hatte, deutete an, daß es in seiner Persönlichkeit »schwer vereinbare Widersprüche« gäbe. Sie dachte an Phoebes Einschätzung seiner turbulenten Aura, die auf innere Wirren und unverblümte Sexualität hinwies. Sie fragte sich, wer er wirklich war, und redete sich ein, es gar nicht wissen zu müssen. Das einzige, was sie wissen mußte, war, daß man ihm nicht vertrauen durfte.
Wem kannst du denn vertrauen?
Vertraue keinem.
Vertraue keinem. Bei diesem Gedanken fühlte sie sich hohl und krank. Sie war ein Mensch, der von Natur aus vertrauen wollte. Sie wollte sich sicher fühlen. Sie wollte glauben, daß so etwas noch möglich war, aber es gab keine Beweise dafür. Ein weiteres Kind wurde vermißt, und mit einem Mal war sie von Menschen umgeben, denen sie nicht den Rücken zuzudrehen wagte – Brooks, Rudy, Glendenning, Garrett Wright.
Plötzlich nahm Richter Franken symbolische Gestalt an. Er war der letzte ehrenhafte Mann gewesen. Er verkörperte Gerechtigkeit, und sein Tod war der Tod einer Ära.
»Du lieber Himmel, Ellen«, tadelte sie sich für diesen melodramatischen Anfall. Aber in ihr blieb die Angst, daß die Welt sich verändert hatte und es kein Zurück mehr gab.
Um auf andere Gedanken zu kommen, ging sie auf Strümpfen hinaus auf die Veranda, um ihre Post aus dem Kasten zu holen, der neben ihrer Tür hing. Rechnungen, Lotteriewerbung, eine über einen Monat alte Weihnachtskarte von ihrer Schwester Jill, noch mehr Lotteriewerbung. Müll.
Sie griff noch einmal in den Kasten, ihre Fingerspitzen streiften etwas, das sich ganz unten verfangen hatte. Sie verzog das Gesicht, schlängelte sich mit der Hand noch tiefer hinein, bekam ein Ende des Papiers zu fassen. Sie zog es heraus, überzeugt, es wäre noch eine Wurfsendung. Doch was sie sah, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
Ein zerknitterter Streifen weißen Papiers mit großen schwarzen Druckbuchstaben.
Es ist erst vorbei, wenn's vorbei ist.
10
»Er zitiert Oliver Wendell Holmes, Robert Browning, William Blake, Thomas Camphell und Yogi-B ä r? « fragte Cameron und setzte sich in einen der Stühle am langen Tisch, mit einem Rosinenhörnchen in einer Hand und einer Tasse von Phoebes Kona-Kaffee in der anderen. »Das ergibt keinen Sinn. Muß ein Trittbrettfahrer sein.«
Um acht Uhr früh war es im Konferenzzimmer kalt wie in einem Kühlschrank. In einem Anfall fiskalischen Verantwor tungsbewußtseins hatten die Bezirksbeauftragten beschlossen, daß es unnötig sei, die nächtliche Temperatur im Gerichtsgebäude über fünfzig Grad Fahrenheit zu halten. Das Gebäude brauchte den halben Tag, um warm zu werden. Jeder im Raum hielt seine Kaffeetasse fest umklammert.
»Oder einer von Wrights
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