Deer Lake 02 - Engel der Schuld
Fall zu Beginn nicht sonderlich aufmerksam verfolgt hatte, hatte er gestern nacht sechs Stunden damit verbracht, alle einschlägigen Zeitungsausschnitte der beiden großen Tageszeitungen von Minneapolis und St. Paul zu studieren. Er hatte sich Videos von Nachrichtensendungen und Interviews angesehen und sich so viele Informationen wie möglich über die Hauptpersonen angeeignet, war aber noch nicht bereit, einen von ihnen zur Zielscheibe einer öffentlichen Schmähung zu machen.
Der weibliche Agent des BCA schlief mit dem Polizeichef. Ein verurteilter Pädophiler hatte im Eisstadion gearbeitet und dann in polizeilichem Gewahrsam Selbstmord begangen. Eine mumifizierte Leiche war in der Garage eines Kirchendiakons gefunden worden, der sich zwei Tage lang der Festnahme entzogen hatte und sich dann, bevor man ihn verhaften konnte, zu Tode stürzte. Die Geschichte bot genügend Stoff für eine Seifenoper – und genau das hatte das Interesse der Fernsehsender und der Skandalpresse geweckt. Immun gegen alltägliche Verbrechen, suchten sie das Sensationelle, das Material, für das man in Hollywood Autoren bezahlte. Es war soviel billiger, es sich aus dem wahren Leben zu holen.
»Doch obwohl es sich hier um einen groben Justizirrtum handelt, möchte ich betonen, daß Dr. Wright selbst niemandem einen Vorwurf machen will. Er vertraut immer noch auf unser Rechtssystem und glaubt daran, daß die Wahrheit ans Licht kommen und er von allen Beschuldigungen freigesprochen wird – so wie wir alle dran glauben müssen, daß der Entführer von Dustin Holloman und Josh Kirkwood gefunden und bestraft, daß der Gerechtigkeit rasch und sicher Genüge getan wird.«
Mit dieser großartigen Feststellung stieg Costello von seinem provisorischen Podium und ging rasch durch die Menge zu seinem wartenden schwarzen Lincoln Town Car, sein Stab machte ihm den Weg frei. Er hatte einen zweiten Anwalt, eine Referendarin, und einen persönlichen Assistenten, der auch als Fahrer fungierte, mitgebracht. Ein weiterer Anwalt war nach Deer Lake vorausgeschickt worden, um Büroräume anzumieten, natürlich weit weniger luxuriöse als die im IDS-Tower in der Innenstadt von Minneapolis, aber für diesen Zweck würden sie genügen. Er hielt es für wichtig, seine Präsenz zu betonen, so wie man vor einem Kampf die Muskeln spielen läßt. Außerdem wäre es einfacher, eine Operationsbasis in der Stadt zu haben, als zu versuchen, alles aus der Ferne zu kontrollieren. Bis zum Ende dieses Tages würde das Büro in Deer Lake komplett mit Büromaschinen ausgestattet sein und eine seiner Sekretärinnen bereits heftig arbeiten.
»Ausgezeichneter Vortrag, Mr. Costello«, sagte Dorman. Er war ein Absolvent aus Purdue, siebenundzwanzig, mit scharfem Verstand ausgestattet, aber nicht ehrgeizig. Ihm lag mehr an Sicherheit als an Berühmtheit. Er begnügte sich damit, von Costello zu lernen, er arbeitete wie ein Pferd und beanspruchte keinerlei Lorbeeren – der ideale Mann für diesen Job.
Costello wählte seine Leute mit großer Sorgfalt aus, unter Berücksichtigung genau dieser Dinge. Er engagierte keine Anwälte, die von den besten Universitäten kamen, weil er sie sich selbst auch nicht hatte leisten können. Er wollte keine arroganten, mit dem silbernen Löffel im Mund geborenen jungen Schnösel, die glaubten, ihm gesellschaftlich überlegen zu sein. Und er wollte auch nicht, daß seine Kanzlei das Image des Elitären hatte. Er selbst war das Produkt einer Erziehung der Arbeitermittelschicht, und er war stolz darauf.
Wenn er Anwälte anheuerte, dann vorwiegend Männer mit Familie, von denen keiner größer war als er selbst. Die augenblickliche Manie für political correctness war ihm wohl bewußt, also hatte er seinen Stab mit einer Auswahl von Frauen und Minderheiten ausgestattet. Levine, die Referendarin, die vor ihm auf dem Beifahrersitz saß, erfüllte die Kriterien in dreifacher Hinsicht – sie war eine schwarze Jüdin. Er suchte mit Bedacht weibliche Angestellte aus, die weder unattraktiv noch schön waren.
Alles in der Kanzlei von Anthony Costello – von den Pflanzen bis zum Personal – war von Costello als würdiger Rahmen für Costello ausgesucht worden. So schaffte man sich ein Image, und in der Welt von heute war Image alles. Ein gutes Image wurde als Erfolg betrachtet. Erfolg zog mehr Erfolg nach sich. Erfolg öffnete die Türen zu Chancen, die den Ruhm brachten. Chancen mußten ergriffen und bis zum letzten Rest ausgepreßt werden.
Levine
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