Deer Lake 02 - Engel der Schuld
war, um die Küchenschränke abzulaugen, dann wanderte er durch das leere Speisezimmer zurück zu seiner Operationsbasis.
Das Haus mit seinen vier Schlafzimmern, drei Bädern und einem Wohnzimmer mit einer zweistöckigen Kathedralendecke war gewiß zu groß für ihn, aber nicht größer, als er es gewohnt war. Sein Haus am Rand von Eudora war doppelt so groß, die Kopie eines Herrenhauses aus der Plantagenära, neben dem der Stammsitz der Brooks wie ein schäbiger Bungalow aussah. Er hatte es gebaut, um zu beeindrucken und Eifersucht zu wecken und um bei den Leuten mit seinem Erfolg zu protzen, die ihn immer als den bösen Brooks seiner Generation abgestempelt hatten, dazu verdammt, als Penner oder Säufer zu enden. Er bewohnte einen Bruchteil des Hauses, und persönlich bedeutete ihm der ganze Prunk nichts. Er wäre mit einer Zweizimmerwohnung genauso zufrieden gewesen.
Er war sich nicht sicher, was das bedeutete, weil er noch nie in seinem Leben zufrieden gewesen war. Schon als Halbwüchsiger war er immer ruhelos gewesen und in der Kindheit ebenfalls. Sein ganzes Leben lang hatte seine Mutter ihre Freude daran gehabt, sich darüber zu beklagen, was für ein ruheloses Baby er gewesen war, so ungeduldig geboren zu werden, daß er zwei Wochen zu früh gekommen war und sich nicht die Mühe gemacht hatte, auf den Arzt zu warten.
»Du bist im Laufschritt zur Welt gekommen«, hatte Onkel Hooter oft gesagt.
Unglücklicherweise hatte Onkel Hooter bei all seiner Johnny-Walker-Weisheit nie angedeutet, wohin er denn laufen sollte. In den Ärger hinein, das war scheinbar die einhellige Meinung gewesen, und Jay hatte ihr reichlich Genüge getan. Unzählige Male war er eine Last und eine Schande für den Familiennamen Brooks gewesen, und trotzdem hatte er es immer fertiggebracht, mit strahlend weißer Weste aus den Schwierigkeiten hervorzugehen, immer hatte sich das Desaster zu Ironie gewandelt.
Er war der Brooks gewesen, der Fensterscheiben zerbrochen, Gesetze übertreten und Traditionen mißachtet hatte. Derjenige, der Auburn den Rücken gekehrt hatte – der Alma mater der Familie Brooks seit ewigen Zeiten – , und das wegen eines Baseballstipendiums für Purdue. Er war derjenige, der sich mit gerümpfter Nase von der Brookschen Familienkanzlei abgewandt hatte, derjenige, der von seiner Frau verlassen worden war. Aber er war auch der Brooks, der ein Vermögen erworben und sich einen Namen gemacht hatte, der Brooks, den New York und Hollywood hofierten und dessen Gesicht auf den Titelblättern und auf den Innenseiten jeder amerikanischen Illustrierten vertreten war. Er war das schwarze Schaf, dessen Taten die Familie mit Genuß kritisiert hatte, dessen Ruhm sie widerstrebend akzeptierte, dessen Geld sie ohne Gewissensbisse nahm.
Irgendwo in ihm gab es ein Buch, aber er hatte keinerlei Bedürfnis, es zu schreiben. Er zog es vor, nach Leichen in den Kellern völlig Fremder zu graben, in den Drehungen und Windungen ihrer Leben einen Sinn zu suchen. Und deshalb war er nach Deer Lake gekommen.
. . . Sie sind ein profitgeiler Gesch ä ftemacher, nicht viel besser als ein Vampir. Ein Schmierfink, der versucht, die Leben und den Schmerz anderer Menschen zu stehlen, um den eigenen Mangel an Phantasie zu kompensieren.
Ellens Worte hallten schneidend durch seinen Kopf. Er sagte sich, daß sie ihm nichts bedeuteten, daß das, was sie sagte, ihn nicht berührte, weil er sich nicht gestatten durfte, sich mit ihr einzulassen. Seine Anwesenheit hier hatte einen Zweck, und der war nicht Sex mit Ellen North.
Er stand vor den hohen Fenstern an der Stirnseite des Wohnzimmers und starrte hinaus auf die harsche weiße Landschaft. Ryan's Bay hatte der Immobilienmakler sie genannt, obwohl es gar keine Bucht war, sondern eine Reihe von Sümpfen am Rande des Nichts, westlich des Teils von Deer Lake, den die Einheimi schen Dinkytown nannten. Das Wasser der »Bucht« lag verborgen unter den Dünen von Schnee, eine gefrorene Wüste, öde und abweisend. Gelbes Unkraut und Kolbenschilfhalme ragten aus den Schneewehen und flatterten im Wind. Das nächste Haus lag einen halben Kilometer nördlich, versteckt hinter einem dichten Kiefernhain. Im Osten konnte er das letzte Viertel von Deer Lake sehen, das sich bis an den Rand des Moors und der Felder erstreckte; kleine eckige Häuser, aus deren Kaminen Rauch in den winterweißen Himmel stieg. Die Türme der katholischen Kirche St. Elysius ragten über die Dächer, ein Trio von Lanzen, das in den Himmel
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