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Defekt

Defekt

Titel: Defekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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Glasscheibe gleitet Lucys schwarze
Gestalt auf dem eleganten schwarzen Motorrad geschmeidig und nahezu lautlos
dahin. Marino bemerkt, dass sich ihr rechter Arm bewegt, als sie die Pistole
anlegt. Den Ellbogen hält sie an den Körper gepresst, damit der Wind ihr nicht
die Waffe aus der Hand reißt. Auf der Digitaluhr in der Konsole ticken die
Sekunden vorbei. Bei fünf drückt er auf den Knopf für Zone zwei. Am östlichen
Ende der Teststrecke klappen kleine runde Zielscheiben aus Metall hoch und
fallen mit lautem blechernen Scheppern um, als die großkalibrige Munition
einschlägt. Lucy trifft nie daneben. Bei ihr sieht das alles ganz spielerisch
aus.
    „Größere Distanz“, hallt seine Stimme aus dem
Kopfhörer.
    „Mit dem Wind?“
    „Verstanden.“
     
    Seine Schritte klappern laut und aufgeregt, als er
den Flur entlanghastet. Das Geräusch seiner Stiefel auf dem zerkratzten alten
Holz spiegelt seine Gefühle wider, und er hat das Gewehr in der Hand. Außerdem
hat er den Schuhkarton mit der Airbrush-Pistole, der roten Farbe und der
Schablone bei sich.
    Er ist vorbereitet.
    „Jetzt wirst du sagen, dass es dir Leid tut“, ruft
er, am Ende des Flurs angelangt, in die offene Tür hinein. „Nun kriegst du, was
du verdienst“, fährt er fort, während er rasch und mit lauten Schritten
eintritt.
    Eine Wolke von Gestank schlägt ihm entgegen wie eine
Wand, als er die Schwelle überschreitet. Es ist noch schlimmer als draußen bei
der Grube. Drinnen im Raum regt sich kein Lüftchen, weshalb der Todesgeruch
nicht abziehen kann. Entsetzt starrt er hin.
    Das darf nicht sein!
    Wie konnte Gott so etwas zulassen?
    Er hört Gott im Flur. Sie schwebt zur Tür herein und
schüttelt missbilligend den Kopf.
    „Ich habe mich doch vorbereitet!“, protestiert er.
    Gott sieht die Frau an, die unbestraft da hängt, und
schüttelt wieder den Kopf. Es ist Hogs Schuld. Er war zu dumm, um mit so etwas
zu rechnen. Er hätte Vorsorgen müssen.
    Sie hat nicht gesagt, dass es ihr Leid tut. Dabei
tun das zu guter Letzt alle, wenn sie den Gewehrlauf im Mund spüren. Dann
stoßen sie mühsam die Worte hervor: Es tut mir Leid. Bitte. Es tut mir Leid.
    Gott verschwindet von der Türschwelle und lässt ihn
mit seinem Fehler und dem rosafarbenen Mädchenturnschuh auf der fleckigen
Matratze zurück. Er beginnt innerlich zu zittern und weiß nicht, wohin mit
seiner rasenden Wut.
    Mit einem Aufschrei stürmt er über den klebrigen,
nach ihrer Notdurft stinkenden Boden auf sie zu und tritt aus Leibeskräften
auf ihren leblosen, widerwärtigen, nackten Körper ein. Sie zuckt bei jedem
Tritt und schwankt an dem Seil um ihren Hals hin und her. Die Schlinge ist ihr
zum linken Ohr gerutscht, und ihre Zunge hängt heraus, wie um ihn zu
verspotten. Ihr Gesicht ist bläulich-rot angelaufen, und sie sieht aus, als
brülle sie ihn an. Ihr Gewicht ruht auf den Knien auf der Matratze, und ihr
Kopf ist geneigt, als bete sie zu ihrem Gott. Die gefesselten Arme ragen mit
zusammengelegten Händen wie im Sieg zur Decke.
    Ja! Ja! Triumphierend baumelt sie am Seil; der kleine rosafarbene
Schuh liegt neben ihr.
    Mit seinen schweren Stiefeln tritt er weiter auf sie
ein, bis seine Beine erlahmen.
    Dann bearbeitet er sie mit dem Gewehrkolben, doch
schließlich haben auch seine Arme keine Kraft mehr.
     
    44
     
    Marino wartet darauf, die wie Menschen geformten
Zielscheiben hochzuklappen, die plötzlich hinter Büschen, einem Zaun, einem
Baum oder in der Kurve - der Kurve des toten Mannes, wie Lucy sie nennt -
erscheinen werden.
    Er wirft einen Blick auf die orangefarbene Windhose
mitten auf dem Feld, um sich zu vergewissern, dass der Wind noch mit einer
Geschwindigkeit von schätzungsweise fünf Knoten aus östlicher Richtung weht. Er
sieht, wie Lucys rechter Arm die Glock zurück ins Halfter schiebt und nach
hinten in eine riesige Satteltasche aus Leder greift, während sie sich mit neunzig
Stundenkilometern in die Kurve legt, die in einer Geraden mündet, wo sie den
Wind im Rücken haben wird.
    „Nummer fünf“, verkündet er.
    Die Storm, die aus nicht reflektierendem Polymer
besteht und mit demselben Teleskoplauf aufgerüstet ist wie eine Uzi, ist Lucys
große Leidenschaft. Die nur knapp drei Kilo wiegende Waffe besitzt einen
Pistolengriff-Schaft, sodass sie leicht zu handhaben ist, und der Auswurf kann
wahlweise links oder rechts stattfinden. Als Marino Zone drei aktiviert, rast
Lucy heran, und die Patronenhülsen aus Messing, die hinter ihr durch die

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