Defekt
ausreiten.“
„Braucht es mehr Dampf unter dem Sattel?“
„Nein, es ist in Ordnung so.“
„Schön, das zu hören. Wir sind gleich so weit.“
„Gegen neun in South Beach“, wendet sich Lucy an
Marino. „Wir treffen uns dort.“
„Vielleicht sollten wir besser zusammen hinfahren“,
erwidert er. Aus ihrem Blick versucht er zu erraten, was in ihr vorgeht.
Wie immer scheitert er dabei, denn ihre Gedanken
sind so verschlungen, dass er fast einen Übersetzer braucht.
„Wir dürfen nicht riskieren, dass sie uns im selben
Auto sieht“, widerspricht Lucy und zieht ihre kugelsichere Jacke aus, deren
Ärmel sich ihrer Ansicht nach anfühlen wie chinesische Handschellen.
„Möglicherweise ist es ja wirklich eine Art Sekte“,
mutmaßt Marino. „Irgendein Hexenkult, dessen Mitglieder sich mit roten Händen
bemalen. Salem liegt doch ganz in der Nähe, und da oben wimmelt es angeblich
von Hexen.“
„Hexen wimmeln nicht, sondern reiten auf Besen.“
Lucy versetzt ihm einen Klaps auf die Schulter.
„Vielleicht gehört sie ja auch dazu“, fährt Marino
fort. „Vielleicht ist deine neue Freundin eine Hexe, die Mobiltelefone klaut.“
„Dann sollte ich sie vielleicht einmal danach fragen“, gibt Lucy zurück.
„Warum bist du so vertrauensselig, was fremde Leute
angeht? Deine Menschenkenntnis ist deine einzige Schwachstelle. Ich wünschte,
du wärst ein bisschen vorsichtiger.“
„Offenbar haben wir beide dieses Problem. In Sachen
Menschenkenntnis hast du mir wirklich nichts vorzuwerfen. Übrigens findet
Tante Kay Reba sehr nett und meint, du hättest dich am Tatort im Fall Simister
ihr gegenüber aufgeführt wie das Hinterletzte.“
„Sie sollte besser aufpassen, was sie sagt - oder
gleich den Mund halten.“
„Sie hat noch viel mehr gesagt. Zum Beispiel, dass
Reba intelligent ist. Unerfahren zwar, aber intelligent. Nicht dumm wie
Bohnenstroh - oder was du sonst noch für Sprüche über sie auf Lager hast.“
„Schwachsinn!“
„Sicher ist sie die, mit
der du mal eine Weile gegangen bist.“
„Wer hat dir denn das
erzählt?“, platzt Marino heraus. „Du selbst. Gerade eben.“
45
Lucy leidet an einem Makroadenom-Tumor. Ihre
Hirnanhangdrüse, die mit einem fadengleichen Stiel am Hypothalamus im unteren
Teil des Gehirns verbunden ist, ist von einem Tumor befallen.
Normalerweise ist die Hirnanhangdrüse etwa so groß
wie eine Erbse. Sie heißt auch Meisterdrüse, weil sie Signale an die
Schilddrüse, die Nebennieren sowie die Eierstöcke oder Hoden sendet und ihre
Hormonproduktion steuert, die wiederum starke Auswirkungen auf den
Stoffwechsel, den Blutdruck, die Fortpflanzungsfähigkeit und weitere
lebenswichtige Körperfunktionen hat. Lucys Tumor hat einen Durchmesser von etwa
zwölf Millimetern. Er ist zwar nicht bösartig, verschwindet jedoch nicht von
selbst und führt zu Problemen wie Kopfschmerzen und einer Überproduktion von
Prolaktin, was Symptome vergleichbar mit einer Schwangerschaft hervorruft. Im
Moment bekämpft sie diese mit Medikamenten, die den Prolaktinspiegel senken und
den Tumor zum Schrumpfen bringen sollen. Doch die Wirkung lässt auf sich
warten. Lucy verabscheut die Medikamente und nimmt sie nur unregelmäßig ein.
Früher oder später wird sie sich vermutlich operieren lassen müssen.
Scarpetta parkt bei Signature, dem
Privatflugunternehmen am Flughafen von Fort Lauderdale, wo Lucy ihren Jet
stehen hat. Als sie aussteigt und die Piloten begrüßt, denkt sie an Benton und
ist sich nicht sicher, ob sie ihm jemals wird verzeihen können. So wütend und
gekränkt ist sie, dass ihr Herz wie rasend klopft und ihr die Hände zittern.
„Ab und zu schneit es noch da oben“, meldet Bruce,
der Flugkapitän. „Die voraussichtliche Flugzeit beträgt zwei Stunden, zwanzig
Minuten. Wir haben ordentlichen Gegenwind.“
„Ich wusste zwar, dass Sie nichts zu essen bestellt
haben, aber wir haben trotzdem eine Käseplatte besorgt“, fügt der Copilot
hinzu. „Haben Sie Gepäck?“
„Nein“, erwidert sie.
Lucys Piloten tragen keine Uniform. Sie haben ein
eigenes, von ihr entworfenes Spezialtraining durchlaufen, rauchen und trinken
nicht, nehmen keine Drogen, sind körperlich gut in Form und außerdem
ausgebildete Personenschützer. Die beiden begleiten Scarpetta aufs Rollfeld, wo
die Citation X wartet. Das Flugzeug erinnert Scarpetta an einen großen weißen
Vogel mit Bauch, an Lucys Bauch und daran, was mit ihr los ist.
Drinnen lässt sie sich in einen großen
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