Defekt
bestanden, das Seil zu raffen, damit sie
so oft wie möglich stehen muss. Dann lehnt sie sich an die Holzwand, bis ihre
Füße sie nicht mehr tragen. Sobald sie sich setzt, reißt es ihr die Arme nach
oben. Aus reiner Grausamkeit hat er ihr erst befohlen, sich die Haare
abzuschneiden, und dann das Seil gekürzt.
Sie blickt hinauf zu dem Balken, an dem die Seile
hängen. Das eine ist an dem Kleiderbügel befestigt, der ihre Handgelenke
fesselt, das andere an dem um ihre Fußknöchel.
Bitte, lieber Gott, zeig mir den Weg.
Das Graben hört auf. Der Gestank verdunkelt den Raum
und brennt ihr in den Augen. Sie weiß, was das zu bedeuten hat.
Die anderen sind tot. Sie ist als Einzige noch
übrig.
Sie blickt hinauf zu dem Seil, das an dem Kleiderbügel
um ihre Handgelenke hängt. Wenn sie aufrecht steht, ist es locker genug, damit
sie es sich einmal um den Hals schlingen kann. Der Geruch steigt ihr in die
Nase, und sie weiß, was es ist. Wieder betet sie. Dann legt sie sich das Seil
um den Hals und lässt die Beine wegknicken.
43
Die Luft ist dick, wellt sich wie Wasser und schlägt
Lucy mit Macht entgegen. Doch die V-Rod bleibt ruhig und scheint es locker
wegzustecken, als Lucy die Schenkel fest gegen den Ledersitz presst und die
Geschwindigkeit auf einhundertneunzig Stundenkilometer hochtreibt. Ihr Kopf ist
gesenkt, und ihre Ellenbogen sind angelegt wie bei einem Jockey, als sie ihre
Neuerwerbung auf der Teststrecke probefährt.
Der Morgen ist sonnig und zu warm für die
Jahreszeit. Das Gewitter von gestern hat sich restlos verzogen. Lucy geht wieder
auf hundertsiebzig Stundenkilometer runter, zufrieden, dass die Harley
ordentlich Gummi geben kann, auch wenn sie nicht vorhat, ihr Glück allzu lange
herauszufordern. Selbst mit einhundertsiebzig Sachen fährt sie für ihre
Sehkraft schon zu schnell, und das ist keine gute Angewohnheit. Schließlich
wird sie irgendwann ihre makellos gepflegte Teststrecke verlassen und auf
öffentlichen Straßen fahren müssen, und bei derart hohen Geschwindigkeiten
könnte schon die kleinste Fahrbahnunebenheit oder ein Hindernis zum Verhängnis
werden.
„Wie macht sie sich?“ Marinos Stimme hallt in ihrem
Integralhelm wider.
„Genau so, wie sie sollte“, erwidert Lucy und
drosselt das Tempo auf einhundertzwanzig. Dann drückt sie leicht auf den Lenker
und kurvt um die orangefarbenen Verkehrskegel herum.
„Mann, ist die leise. Hier oben kann ich sie kaum
hören“, sagt Marino, der im Kontrollturm sitzt.
Genau darauf kommt es ja an, denkt sie. Die V-Rod ist eine leise Harley, eine Rennmaschine,
die wie ein ganz gewöhnliches Motorrad aussieht und keine große Aufmerksamkeit
erregt. Sie lehnt sich zurück, reduziert die Geschwindigkeit auf neunzig
Stundenkilometer und betätigt mit dem Daumen den Tempomat. Dann lehnt sie sich
in die Kurve und zieht eine Glock Kaliber .40 aus einem Halfter am rechten
Oberschenkel ihrer schwarzen Kampfhose.
„Schießstand frei“, funkt sie.
„Also
los.“
„Okay. Rauf mit den Zielscheiben.“
Vom Kontrollturm aus sieht Marino zu, wie Lucy die
enge Kurve an der Nordseite der anderthalb Kilometer langen Teststrecke
umrundet.
Er lässt den Blick über die hohen Erdwälle, den
blauen Himmel, die mit Gras bewachsenen Schießstände, die mitten über das
Gelände verlaufende Straße und schließlich über den einen Dreiviertelkilometer
entfernten Hangar und die Rollbahn schweifen. Schließlich möchte er sich
vergewissern, dass sich weder Personen noch Autos oder Flugzeuge in der Nähe befinden.
Wenn auf der Teststrecke scharf geschossen wird, muss jeder einen
Sicherheitsabstand von anderthalb Kilometern einhalten. Selbst der Luftraum
ist gesperrt.
Während er Lucy beobachtet, kämpfen widerstreitende
Gefühle in ihm. Ihre Furchtlosigkeit und ihre zahlreichen Talente beeindrucken
ihn. Es ist eine Art Hassliebe, und manchmal würde er sich freuen, wenn sie ihm
nichts bedeuten würde. Außerdem hat sie etwas Wichtiges mit ihrer Tante
gemeinsam, denn auch sie vermittelt ihm das Gefühl, dass er für die Sorte von
Frau, die er insgeheim begehrt, an die er sich aber nie herantrauen würde,
unattraktiv ist. Er betrachtet Lucy, wie sie ihre rasend schnellen Runden auf
der Teststrecke dreht und dabei mit ihrem nagelneuen Supermotorrad umgeht, als
wäre es ein Teil von ihr. Dabei denkt er daran, dass Scarpetta jetzt auf dem
Weg zum Flughafen und zu Benton ist.
„In fünf Sekunden geht's los“, spricht er ins
Mikrofon.
Jenseits der
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