Defekt
würdigt
den Piloten keiner Antwort und blickt ihm nach, als er davongeht.
„Lass mich raten“, sagt Benton zu Scarpetta. „Wieder
ein Triathlet, der beschlossen hat, Räuber und Gendarm zu spielen. Diese
Piloten mit mehr Muskeln als Hirn gehen mir stets auf die Nerven, wenn ich
Lucys Flugzeug nehme.“
„Mir vermitteln sie ein Gefühl von Sicherheit.“
„Tja, mir eben nicht.“
Als sie das Flughafengebäude verlassen, knöpft
Scarpetta ihren Wollmantel zu.
„Hoffentlich hat er nicht versucht, Konversation zu
betreiben, oder dich sonstwie belästigt. Auf mich machte er nämlich den
Eindruck“, spricht er weiter.
„Ich freue mich, dich zu sehen, Benton“, entgegnet
Scarpetta. Sie geht einen Schritt vor ihm her.
„Ich weiß aber, dass du dich ganz und gar nicht
freust.“
Er holt sie ein und hält ihr die Glastür auf. Ein
kalter Wind, in dem Schneeflocken tanzen, weht ihnen entgegen. Der dunkelgraue
Tag ist so neblig, dass sich die Parkplatzbeleuchtung eingeschaltet hat.
„Wo treibt sie nur immer diese gut aussehenden,
fitnessbesessenen Typen auf, die sich wie Actionhelden aufspielen?“
„Ich habe dich verstanden. Willst du mir zuvorkommen
und einen Streit anfangen?“
„Ich finde es wichtig, dass du aufmerksam bist und
bei deinen Mitmenschen nicht immer vom Guten ausgehst. Manchmal mache ich mir
Sorgen, dass du Warnzeichen übersehen könntest.“
„Das ist doch albern“, entgegnet Scarpetta gereizt.
„Wenn überhaupt, neige ich eher zur Übervorsichtigkeit. Obwohl mir im letzten
Jahr offenbar einiges entgangen ist. Du wolltest Streit, jetzt hast du ihn.“
Sie hasten über den verschneiten Parkplatz. Der
Lichtkegel der Straßenlaternen verschwimmt im Schneesturm, und alle Geräusche
klingen gedämpft. Normalerweise würden sie sich an den Händen halten. Scarpetta
fragt sich, wie er so etwas tun konnte. Ihre Augen tränen. Vielleicht liegt es
am Wind.
„Es gibt viel zu viele zwielichtige Gestalten auf
der Welt“, lautet seine einzige Antwort, als er seinen Porsche, diesmal einen
Geländewagen mit Allradantrieb, aufschließt.
Benton hat eine Schwäche für Autos. Er und Lucy
brauchen das Gefühl von Macht. Der einzige Unterschied ist, dass Benton seine
Macht kennt, während Lucy die ihre unterschätzt.
„Machst du dir allgemein Sorgen?“, erkundigt sich
Scarpetta in der Annahme, dass er noch über die von ihr angeblich übersehenen
Warnzeichen spricht.
„Ich meine damit den Menschen, der hier in dieser
Gegend eine Frau umgebracht hat. Laut NIBIN besteht eine Übereinstimmung mit
einer Schrotpatrone, die vor zwei Jahren vermutlich aus derselben Waffe
abgefeuert wurde, und zwar bei einem Mord in Hollywood. Es handelte sich um
einen Raubüberfall auf einen Selbstbedienungsladen. Der Täter trug eine Maske.
Nachdem er einen jungen Mitarbeiter getötet hatte, wurde er vom Filialleiter
erschossen. Kommt dir das irgendwie bekannt vor?“
Während er spricht, wirft er ihr einen Blick zu und
fährt dann los.
„Ich habe davon gehört“, erwidert sie. „Siebzehn
Jahre alt, mit nichts als einem Wischmopp bewaffnet. Gibt es eine Theorie,
warum dieses Schrotgewehr wieder im Umlauf ist?“, fragt sie, zunehmend
verärgert.
„Noch nicht.“
„In letzter Zeit stolpern wir auf Schritt und Tritt
über Schrotflinten“, sagt sie kühl und sachlich.
Wenn er diesen Ton bevorzugt, kann er ihn haben.
„Mich würde interessieren, was dahintersteckt“, fügt
sie emotionslos hinzu. „Die Mordwaffe im Fall Johnny Swift verschwindet, und
dann wird Daggie Simister auch mit so einem Gewehr erschossen.“
Da Benton den Fall Daggie Simister noch nicht kennt,
muss sie ihm zunächst alles erklären.
„Ein Gewehr, das sich eigentlich unter Verschluss
befinden sollte oder hätte vernichtet werden müssen, wurde vor kurzem hier in
dieser Gegend benutzt“, fährt sie fort. „Und dann wäre da noch die Bibel im
Haus der vermissten Familie.“
„Was für eine Bibel und was für eine vermisste
Familie?“
Auch das muss sie ihm erläutern, und sie schildert
ihm den anonymen Anruf des Mannes, der sich Hog nennt. Dann berichtet sie, die
jahrhundertealte Bibel, die im Haus der verschwundenen Schwestern und der
beiden Jungen aufgefunden wurde, sei bei dem Buch der Weisheit aufgeschlagen
gewesen, und zwar bei demselben Vers, den Hog Marino am Telefon zitiert hat:
Darum hast du ihnen wie
unvernünftigen Kindern eine Strafe gesandt, die sie zum Gespött machte.
„Mit einem Bleistift-X markiert“,
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