Defekt
haben wir im
Moment ein viel größeres Problem“, fährt er fort.
„Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich unsere
Probleme noch vergrößern sollten“, antwortet Scarpetta und beginnt, das Huhn zu
tranchieren.
„Es geht um die Patronenhülse“, sagt Marino. „Die
aus dem Mord am Waiden Pond, bei der eine Übereinstimmung in NIBIN gefunden
wurde.“
„Ich wollte nicht in Gegenwart der anderen darüber
reden“, sagt Marino am Telefon. „Es muss einer von uns dahinterstecken. Eine
andere Erklärung gibt es nicht.“
Die Tür seines Büros, wo er am Schreibtisch sitzt,
ist nicht nur zugezogen, sondern auch abgeschlossen.
„Es ist nämlich Folgendes passiert“, erzählt er
weiter. „Heute früh habe ich mit einem Kumpel gesprochen, der bei der Polizei
von Hollywood für die Asservatenkammer zuständig ist. Er hat mal einen Blick in
den Computer geworfen und brauchte nur fünf Minuten, um die Daten des
Schrotgewehrs abzurufen, das vor zwei Jahren bei dem Überfall mit Todesfolge
auf den Lebensmittelladen benutzt wurde. Und rate mal, wo diese Waffe jetzt
eigentlich sein müsste, Doc. Ich hoffe, du sitzt gut.“
„Hinsetzen hat noch nie was genützt“, erwidert
Scarpetta. „Also raus mit der Sprache.“
„In unserer eigenen Sammlung von Demonstrationsobjekten.“
„In der Akademie? In unserer Schusswaffensammlung in
der Akademie?“
„Die Polizei von Hollywood hat sie uns vor einem
Jahr zusammen mit ein paar weiteren Waffen, die nicht mehr gebraucht wurden,
gespendet. Schon vergessen?“
„Hast du dich persönlich im Schusswaffenlabor davon
überzeugt, dass das Gewehr nicht mehr da ist?“
„Davon ist auszugehen. Schließlich wissen wir, dass
vor kurzem oben im Norden damit eine Frau erschossen worden ist.“
„Sieh sofort nach“, weist sie ihn an. „Und ruf mich
dann zurück.“
51
Hog wartet in der Schlange.
Er steht hinter einer dicken Frau, die einen
grellrosa Hosenanzug trägt. In der einen Hand hat er seine Stiefel und eine
Reisetasche, in der anderen Führerschein und Bordkarte. Er tritt vor und legt
Stiefel und Jacke in eine Plastikwanne.
Nachdem er die Wanne und seine Tasche auf dem
Förderband deponiert hat, setzen sich die Sachen in Bewegung. Er stellt seine
bestrumpften Füße genau in die weißen Fußabdrücke auf dem Teppich und verharrt
in dieser Stellung, bis ein Flughafenmitarbeiter ihn mit einer Kopfbewegung
anweist, durch den Metalldetektor zu gehen. Er gehorcht, nichts piepst, und er
zeigt dem Wachmann seine Bordkarte. Dann nimmt er Stiefel und Jacke aus der
Wanne, greift nach seiner Tasche und steuert auf Flugsteig einundzwanzig zu.
Niemand interessiert sich für ihn.
Er kann die verwesenden Leichen noch immer riechen,
bekommt den Gestank einfach nicht aus der Nase. Vielleicht ist es ja eine
Geruchshalluzination. Das hat er schon öfter gehabt. Manchmal weht ihm
Rasierwasserduft von Old Spiee entgegen, so wie damals, als er auf der Matratze
das Böse getan hat und an einen Ort geschickt wurde, wo zwischen alten
Backsteingebäuden der Schnee fiel und wo es kalt war. Jetzt fliegt er wieder
dorthin. Es schneit zwar, aber nicht allzu stark. Bevor er ein Taxi zum
Flughafen nahm, hat er sich den Wetterbericht angesehen. Er wollte den Blazer
nicht auf dem Langzeit-Parkplatz lassen, weil das ein Vermögen kostet. Außerdem
wollte er vermeiden, dass jemand einen Blick in den Kofferraum wirft. Er hat
nämlich nicht besonders gründlich sauber gemacht.
Er reist mit leichtem Gepäck, denn er braucht nicht
mehr als einen Satz Kleider zum Wechseln, Waschzeug und ein zweites Paar
Stiefel, das besser passt. Die alten Stiefel werden bald ausgedient haben. Sie
sind Sondermüll, ein Gedanke, den er komisch findet. Während die Stiefel auf
den Flugsteig zugehen, überlegt er, ob er sie vielleicht doch für immer
behalten soll. Sie haben eine bewegte Geschichte hinter sich, sind in Häuser
spaziert, als ob sie ihm gehörten, haben sich Menschen geschnappt, als ob sie
ihm gehörten, und sind später zu diesen Häusern zurückgekehrt und auf
Gegenstände geklettert, um Ausschau zu halten und zu guter Letzt frech
hineinzumarschieren. Die Stiefel haben ihn von Zimmer zu Zimmer getragen, um
Gottes willen zu tun. Zu bestrafen. Menschen zu verwirren. Das Gewehr. Der
Handschuh. Er wird es allen zeigen.
Gott hat einen IQ von einhundertundfünfzig.
Seine Stiefel haben ihn ins Haus gebracht, und er
hatte die Kapuze auf dem Kopf, bevor sie auch nur wussten, wie ihnen
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