Defekt
anderen
Software-Entwicklungen ein Vermögen verdient hat. Hauptsächlich handelt es sich
dabei um Suchmaschinen. Und in diesem Augenblick wühlen sie sich durch den
Cyberspace und halten Ausschau nach Todesfällen als Folge von Gewalteinwirkung,
die in wie auch immer gearteten Geschäftsräumen im Bundesstaat Florida
aufgetreten sind.
Abgesehen von den zu erwartenden Tötungsdelikten in
Lebensmittelmärkten, Schnapsläden, Massagesalons und im Rotlichtmilieu ist
sie auf kein Gewaltverbrechen gestoßen, das sich in seiner Beschreibung mit
Basil Jenrettes Aussage gegenüber Benton deckt. Allerdings gab es damals
wirklich einen Laden namens The Christmas Shop, und zwar an der Kreuzung der
Schnellstraße A1A mit dem East Las Olas Boulevard in einer Ladenzeile am
Strand, die Boutiquen mit Touristenkitsch, Cafes und Eisdielen beherbergt. Vor
zwei Jahren wurde der Laden an die auf T-Shirts, Bademoden und Souvenirs
spezialisierte Kette Beach Bums verkauft.
Joe kann kaum glauben, wie viele Fälle Scarpetta in
ihrer relativ kurzen beruflichen Laufbahn bereits bearbeitet hat. Forensische
Pathologen bekommen meist erst mit dreißig die erste Festanstellung,
vorausgesetzt, dass sie ihre anspruchsvolle Ausbildungsphase ohne
Unterbrechung durchlaufen haben. Zusätzlich zu den sechs Jahren Medizinstudium
hat Scarpetta noch drei Jahre an der juristischen Fakultät verbracht. Mit fünfunddreißig
war sie schon Leiterin des angesehensten Gerichtsmedizinischen Instituts der
Vereinigten Staaten. Und anders als die meisten Chefpathologen hat sie sich
nicht auf Verwaltungsaufgaben beschränkt, sondern eigenhändig Autopsien durchgeführt
- und zwar Tausende.
Der Großteil davon ist in einer Datenbank
abgespeichert, die eigentlich ausschließlich Scarpetta selbst zugänglich sein
sollte. Sie hat sogar Fördergelder der Regierung zur Durchführung von Studien
zu verschiedenen Formen der Gewalt - sexuelle Gewalt, Gewalt und
Drogenmissbrauch, häusliche Gewalt, andere Arten von Gewalt - erhalten. Bei
ziemlich vielen ihrer alten Fälle hat Marino, während ihrer Zeit als
Chefpathologin Detective bei der Mordkommission, die Ermittlungen geleitet.
Also stehen ihr seine Berichte ebenfalls in einer Datenbank zur Verfügung. Das
ist wie ein Laden voller Bonbons. Eine Quelle, aus der ununterbrochen
Champagner sprudelt. Fast so gut wie ein Orgasmus.
Joe blättert am Bildschirm den Fall C328-93 durch,
den Selbstmord unter Beteiligung der Polizei, der als Vorlage für die Horror-Szene
des heutigen Nachmittags dient. Wieder klickt er die Tatortfotos an und denkt
an Jenny. In dem wirklichen Fall liegt die schießwütige Tochter bäuchlings in
einer Blutlache auf dem Wohnzimmerfußboden. Sie wurde dreimal getroffen, einmal
in den Unterleib und zweimal in die Brust. Er stellt sich vor, was sie anhatte,
als sie ihren Vater in der Toilette tötete und dann den Polizisten Theater
vorspielte, ehe sie noch einmal zur Pistole griff. Sie starb barfuß, in einer
zur Shorts abgeschnittenen Jeans und in einem T-Shirt. Auf Höschen und BH hatte
sie verzichtet. Joe klickt die Fotos von ihrer Autopsie an, wobei ihn weniger
interessiert, wie sie mit dem Y-förmigen Einschnitt aussah. Er will sie
betrachten, wie sie nackt auf dem kalten Stahltisch liegt. Sie war erst
fünfzehn, als die Polizei sie erschoss, und er denkt an Jenny.
Dann blickt er lächelnd auf. Jenny sitzt ihm am
Schreibtisch gegenüber und wartet geduldig auf seine Anweisungen. Joe öffnet
eine Schreibtischschublade, holt eine Neun-Millimeter-Glock heraus, zieht den
Schlitten zurück, um sicherzugehen, dass die Kammer leer ist, entfernt das
Magazin und schiebt ihr die Waffe über den Tisch hinweg zu.
„Haben Sie schon einmal eine Pistole abgefeuert?“,
fragt er seine neue Lieblingsschülerin.
Sie hat ein reizendes Stupsnäschen und große Augen
in der Farbe von Milchschokolade, und er stellt sie sich nackt und tot vor wie
das Mädchen von den Fotos auf seinem Bildschirm.
„Ich bin mit Waffen aufgewachsen“, erwidert sie.
„Finden Sie es sehr unverschämt, wenn ich Sie frage, was Sie sich da
anschauen?“
„E-Mails“, entgegnet er. Mit der Wahrheit hat er es
noch nie so genau genommen.
Es macht ihm Spaß, die Unwahrheit zu sagen, und er
zieht sie meistens der Wahrheit vor. Die Wahrheit ist nicht immer die Wahrheit.
Was ist denn wahr? Wahr ist nur das, was er zur Wahrheit erklärt. Alles nichts
weiter als Interpretationssache. Jenny reckt den Hals, um den Bildschirm besser
sehen zu
Weitere Kostenlose Bücher