Defekt
Dave
gekommen?“
„Verzeihung“, unterbricht Rose und kommt herein.
„Ich denke, ich habe da etwas, um das einer von Ihnen sich kümmern sollte.“
„Du hättest etwas sagen und mir die Chance geben
müssen, mich zu verteidigen“, wendet sich Scarpetta an Marino. „Auch wenn ich
dir nicht immer alles erzähle, belüge ich dich nicht.“
„Die Wahrheit zu verschweigen ist nichts anderes als
lügen.“
„Entschuldigen Sie“, versucht Rose es erneut.
„BESTIE“, meint Marino zu Scarpetta. „Soll das etwa
keine Lüge gewesen sein?“
„Mrs. Simister“, fällt Rose ihnen laut ins Wort.
„Die Dame von der Kirche, die vor einer Weile angerufen hat. Tut mir Leid, aber
es scheint sehr dringend zu sein.“
Marino macht keine Anstalten, ans Telefon zu gehen,
als wolle er Scarpetta daran erinnern, dass er nicht ihr Untergebener ist und
dass sie den Anruf selbst entgegennehmen soll.
„Ach, verdammt“, sagt sie und geht zum Schreibtisch
zurück. „Stellen Sie sie durch.“
24
Die Hände in den Taschen seiner Jeans, lehnt Marino
am Türstock und sieht zu, wie Scarpetta sich mit der unbekannten Mrs. Simister
beschäftigt.
Früher hat er gern stundenlang bei Scarpetta im Büro
gesessen, ihr zugehört und dabei Kaffee getrunken und geraucht. Er hat sich
nichts dabei vergeben, sie um eine Erklärung zu bitten, wenn er etwas nicht
verstanden hat, und es störte ihn nicht, wenn sie, wie so oft, unterbrochen
wurden. Es hat ihm auch nichts ausgemacht, wenn sie zu spät kam.
Doch inzwischen ist alles anders, und das ist ganz
allein ihre Schuld. Er hat keine Lust, auf sie zu warten. Er interessiert sich
nicht für ihre Erklärungen. Und er verharrt lieber in Unwissenheit, als ihr,
persönlich oder privat, eine medizinische Frage zu stellen - und wenn es um
sein Leben ginge. Früher hatte er in dieser Hinsicht keine Scheu. Aber dann hat
sie ihn betrogen. Sie hat ihn erniedrigt, und zwar absichtlich, und sie wird es
wieder tun, ganz gleich, wie oft sie auch das Gegenteil beteuert. Für ihr
Verhalten schüttelt sie stets eine vernünftige Erklärung aus dem Ärmel und
kränkt andere Menschen im Namen der Logik und der Wissenschaft. Aber Marino ist
nicht so dämlich, um das nicht zu durchschauen.
Es ist so ähnlich wie das, was Doris damals passiert
ist. Eines Tages kam sie weinend nach Hause, und Marino konnte nicht sagen, ob
sie wütend oder traurig war. Jedenfalls war sie so aufgebracht, wie er sie
noch nie erlebt hatte.
Was ist denn los? Wird er den
Zahn ziehen müssen?, erkundigte
sich Marino, der gerade Bier trinkend in seinem Lieblingssessel saß und sich
die Nachrichten ansah.
Doris brach schluchzend auf dem Sofa zusammen.
Mist. Was hast du denn, Baby?
Da sie die Hände vors Gesicht schlug und weinte, als
liege jemand im Sterben, setzte Marino sich neben sie und nahm sie in den Arm.
Nachdem er sie eine Weile gehalten hatte und sie noch immer nicht mit der
Sprache herausrückte, verlangte er von ihr eine Erklärung, was zum Teufel denn
geschehen sei.
Er hat mich angefasst, antwortete sie. Ich wusste, dass da etwas nicht stimmt, und ich habe ihn
immer wieder danach gefragt. Aber er hat gemeint, ich müsste mich entspannen.
Eigentlich war mir klar, was er da trieb, doch ich hatte solche Angst. Ich
hätte es besser wissen und mich wehren müssen, doch ich war einfach ratlos. Sie berichtete, der Zahnarzt oder Kieferchirurg - oder als
was sich der Mann auch bezeichnen mochte - habe gesagt, Doris habe aufgrund
einer abgebrochenen Wurzel einen Infektionsherd im Körper, weshalb er ihre
Drüsen abtasten müsse. Dieses Wort hatte er laut Doris benutzt.
Drüsen.
„Moment bitte“, meint Scarpetta zu der unbekannten
Mrs. Simister. „Ich stelle den Raumlautsprecher an. Ein Ermittler sitzt hier
bei mir im Büro.“
Sie wirft Marino einen Blick zu, der besagen soll,
dass der Inhalt des Anrufs ihr zu denken gibt. Er versucht, die Erinnerung an
Doris beiseite zu schieben. Immer wieder fällt sie ihm ein, und je älter er
wird, desto öfter geht ihm durch den Kopf, was einmal zwischen ihnen war und
was er empfunden hat, nachdem der Zahnarzt sie befummelt hatte. Er denkt auch
an seine Gefühle, als sie ihn wegen eines Autoverkäufers verlassen hat, wegen
eines gottverdammten, abgewrackten Autoverkäufers. Alle verlassen ihn. Alle
betrügen ihn. Alle wollen ihm etwas wegnehmen. Alle halten ihn für zu blöd, um
ihre Tricks und Intrigen zu durchschauen. In den letzten Wochen ist es
unerträglich
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