Defekt
nichts von neun-eins-eins gesagt.“
Das ist schon seit Jahren ihr Code und stammt aus
einer Zeit, als Mobiltelefone noch nicht so verbreitet waren und jeder einen
Piepser benutzte. Außerdem waren die ersten Modelle nicht sehr abhörsicher.
Inzwischen schützt Lucy ihre Privatsphäre mit allen möglichen Chiffriercodes,
weshalb es ungefährlich ist, eine Nachricht auf der Mailbox zu hinterlassen.
„Wie soll ich auf einer Mailbox neun-eins-eins
absetzen?“, erwidert Scarpetta. „Oder hätte ich etwa nach dem Pfeifton
neun-eins-eins sagen sollen?“
„Ich wollte nur darauf hinaus, dass nicht von einem
Notfall die Rede war. Worum ging es denn?“
„Du hast mich versetzt. Wir waren verabredet, um den
Fall Swift durchzugehen. Schon vergessen?“
Sie hat ihm auch ein Abendessen gekocht, doch das
erwähnt sie nicht.
„Ich war beschäftigt. Unterwegs.“
„Könntest du mir vielleicht verraten, was du gemacht
hast und wo du warst?“
„Ich bin auf meinem neuen Motorrad herumgefahren.“
„Zwei ganze Tage lang? Du hast kein einziges Mal
angehalten, um zu tanken oder vielleicht aufs Klo zu gehen, und hattest keine
Zeit für einen kurzen Anruf?“
Sie lehnt sich in dem großen Sessel hinter ihrem
gewaltigen Schreibtisch zurück und fühlt sich sehr klein, als sie ihn ansieht.
„Du verhältst dich bockig. Und darum wollte ich dich sprechen.“
„Ich bin dir keine Rechenschaft schuldig.“
„Immerhin bin ich die Chefin der forensischen und
medizinischen Abteilung, schon vergessen?“
„Und ich leite die Ermittlungen, was unter die
Kategorie Ausbildung und Sondereinsätze fällt. Also ist Lucy meine Vorgesetzte.
Nicht du.“
„Lucy ist nicht deine Vorgesetzte.“
„Ich denke, darüber solltest du besser mit ihr
selbst reden.“
„Ermittlungen fallen unter Forensik und Medizin. Du
bist kein Agent für Sondereinsätze, Marino. Meine Abteilung bezahlt dein
Gehalt. Verstanden?“ Sie würde ihm am liebsten an die Gurgel gehen, weiß aber,
dass sie sich beherrschen sollte.
Er wendet ihr sein breites, derbes Gesicht zu. Seine
großen, dicken Finger klopfen auf die Armlehne. Dann schlägt er die Beine
übereinander und wippt mit einem riesigen, in einem Harley-Stiefel steckenden
Fuß.
„Deine Aufgabe ist es, mich bei der Aufklärung
meiner Fälle zu unterstützen. Du bist derjenige, auf dessen Hilfe ich am
meisten angewiesen bin.“
„Das erörterst du besser mit Lucy.“
Marino klopft langsam auf die Armlehne, wippt mit
dem Fuß, und seine stahlharten Augen blicken an ihr vorbei.
„Ich soll absolut offen zu dir sein, während du mir
einen Scheißdreck verrätst“, fährt er fort. „Du tust, was du willst, und
glaubst, mir keine Rechenschaft schuldig zu sein. Und ich sitze da und höre zu,
wie du mich anlügst, als wäre ich zu blöd, um die Angelegenheit zu
durchschauen. Du machst doch nur den Mund auf, wenn es dir in den Kram passt.“
„Schließlich arbeite ich nicht für dich, Marino.“
Scarpetta kann sich die Bemerkung nicht verkneifen. „Soweit ich im Bilde bin,
ist es genau umgekehrt.“
„Ach, wirklich?“
Er beugt sich vor, und sein Gesicht rötet sich.
„Frag Lucy“, sagt er. „Ihr gehört dieser verdammte
Laden. Sie bezahlt die Gehälter. Frag sie.“
„Beim Großteil unserer Gespräche über den Fall Swift
hast du dich nicht blicken lassen“, spricht Scarpetta bemüht freundlich
weiter, um den drohenden Streit abzuwenden.
„Warum sollte ich mir die Mühe machen? Schließlich
bin ich derjenige, der die Informationen hat.“
„Wir hatten gehofft, du würdest sie mit uns teilen.
Schließlich sitzen wir alle in einem Boot.“
„Da lachen ja die Hühner! Jeder hier steckt seine
Nase in die Angelegenheiten anderer Leute. Nichts bleibt mehr privat. Und meine
alten Fälle und meine Horror-Szenen sind Freiwild. Du verteilst alles nach Lust
und Laune, ohne dich darum zu kümmern, wie ich mich dabei fühle.“
„Das stimmt nicht. Bitte beruhige dich. Sonst
kriegst du noch einen Schlaganfall.“
„Hast du das mit der gestrigen Horror-Szene gehört?
Woher, glaubst du, hatte er die? Er verschafft sich irgendwie Zugang zu unseren
Unterlagen.“
„Das geht nicht. Die Ausdrucke sind unter Verschluss.
Die Dateien sind absolut zugriffsgeschützt. Was die gestrige Horror-Szene
betrifft, gebe ich zwar zu, dass sie sehr ähnlich war ...“
„Ähnlich, verdammt. Sie war absolut identisch.“
„Marino, es kam in den Nachrichten. Man kann den
Bericht sogar immer noch im Internet
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