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Defekt

Defekt

Titel: Defekt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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am
anderen Ufer des Kanals. Dann öffnet er die Schiebetür und betritt die Veranda.
    „Mrs. Simister?“, ruft er. „Ist jemand zu Hause?
Polizei!“
    Eine zweite Schiebetür ist ebenfalls nicht
verschlossen. Im Esszimmer bleibt Marino stehen und ruft wieder ihren Namen.
Hinten im Haus plärrt der Fernseher auf voller Lautstärke. Marino steuert auf
das Geräusch zu und kündigt seine Anwesenheit dabei immer wieder an.
Inzwischen hat er die Pistole gezogen. Als er den Flur entlanggeht, stellt er
fest, dass gerade eine Talk-Show läuft, in der viel gelacht wird.
    „Mrs. Simister? Sind Sie da?“
    Der Fernseher steht in einem der hinteren Räume,
vermutlich ist es das Schlafzimmer, und die Tür ist zu. Er zögert und ruft
noch einmal. Dann klopft er, erst leise, dann kräftiger, tritt ein und sieht
das Blut, einen zierlichen Körper auf dem Bett und das, was vom Kopf noch übrig
ist.
     
    29
     
    In einer Schreibtischschublade liegen Bleistifte,
Kugelschreiber und Markierstifte. Zwei der Bleistifte und einer der Kugelschreiber
sind abgekaut, und Scarpetta untersucht die Zahnabdrücke in Holz und Plastik.
Dabei fragt sie sich, welcher der Jungen wohl nervös auf Gegenständen
herumknabbert.
    Sie verstaut die verschiedenen Stifte in getrennten
Asservatenbeuteln. Nachdem sie die Schublade geschlossen hat, sieht sie sich um
und überlegt, was für ein Leben die beiden südafrikanischen Waisenjungen hier
führen mögen. Im Zimmer gibt es weder Spielsachen, noch hängen Poster an den
Wänden. Nichts weist darauf hin, ob die Brüder auf Mädchen, Autos, Filme oder
Sport stehen, ob sie Vorbilder haben und was ihnen Spaß macht.
    Das Badezimmer ist eine Tür weiter. Es ist
altmodisch eingerichtet mit hässlichen grünen Kacheln, weißer Toilette und Badewanne.
Scarpetta sieht ihr Gesicht im Spiegelschränkchen, als sie die Tür öffnet. Die
schmalen Metallregale enthalten Zahnseide, Aspirin und kleine verpackte
Stückchen Seife, wie man sie in Motel-Badezimmern findet. Scarpetta hebt ein
kleines Pillendöschen aus durchsichtigem orangefarbenem Plastik, wie
amerikanische Apotheken sie für verschreibungspflichtige Medikamente benutzen,
am weißen Deckel an und ist erstaunt, als sie auf dem Etikett den Namen des
verordnenden Arztes liest: Dr. Marilyn Seif.
    Die Prominenten-Psychiaterin Dr. Seif hat David Luck
Ritalin verschrieben. Dreimal täglich soll er zehn Milligramm davon einnehmen.
Im vergangenen Monat, auf den Tag genau vor drei Wochen, wurden ihm erneut
einhundert Tabletten verordnet. Scarpetta entfernt den Deckel und schüttet sich
die eingekerbten grünen Tabletten auf die Hand. Sie zählt neunundvierzig
Stück. Wenn der Junge drei Wochen lang die verordnete Dosis eingenommen hat,
dürften es ihrer Berechnung nach eigentlich nur noch siebenunddreißig sein.
Angeblich ist er am Donnerstagabend verschwunden. Das war vor fünf Tagen, also
vor fünfzehn Tabletten. Fünfzehn plus siebenunddreißig macht zweiundfünfzig. Also
ziemlich nah dran. Warum hat David sein Ritalin zurückgelassen, wenn er
freiwillig verschwunden ist? Und warum war der Herd noch an?
    Scarpetta gibt die Tabletten zurück in das Döschen
und verstaut es in einem Asservatenbeutel. Dann geht sie den Flur entlang. An
dessen Ende liegt das letzte Zimmer, das die Schwestern offenbar miteinander
geteilt haben. Es gibt zwei Betten, beide mit smaragdgrünen Überwürfen. Tapete
und Teppich sind grün. Auch die Möbel sind grün lackiert. Lampen und Deckenventilator
sind grün, und grüne zugezogene Vorhänge sperren das Tageslicht aus. Die
Nachttischlampe brennt. Der Raum wird nur von ihrem dämmrigen Schein und von
dem Licht erleuchtet, das aus dem Flur hereinfällt.
    Das Zimmer enthält weder einen Spiegel noch Bilder.
Nur zwei gerahmte Fotos stehen auf der Kommode. Das eine zeigt einen
Sonnenuntergang am Meer und zwei Jungen, beide blond, die Badehosen tragen und
lächelnd am Strand stehen. Offenbar sind sie Brüder, und der eine ist älter als
der andere. Auf dem anderen Foto sind zwei Frauen mit Spazierstöcken zu sehen.
Sie blinzeln zur Sonne hinauf, die an einem endlosen blauen Himmel steht.
Hinter ihnen am Horizont erhebt sich ein seltsam geformter Berg. Sein Gipfel
wird von einer ungewöhnlichen Wolkenformation verhüllt, die sich wie dichter
weißer Dampf aus den Felsen erhebt. Die eine Frau ist klein und vollbusig und
trägt ihr langes graumeliertes Haar zurückgebunden. Die andere ist größer und
schlanker und hat sehr langes, gewelltes

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