Defekt
Stunde.“
Sie beugt sich über das Bett, betrachtet gründlich
die Hände der Leiche und dreht sie sanft hin und her. Scarpetta geht stets
behutsam mit ihren Patienten um, auch wenn diese nichts mehr spüren. Sie kann
weder Abschürfungen noch Hautrisse oder Blutergüsse feststellen, die auf
Fesselung oder einen Kampf hindeuten würden. Als sie eine Lupe zur Hand nimmt,
entdeckt sie an beiden Handflächen Fasern und Schmutz.
„Könnte sein, dass sie auf dem Boden gelegen hat“,
meint sie. In diesem Moment kommt Reba herein, blass, vom Regen durchweicht und
offensichtlich erschüttert.
„Die Straßen hier sind das reinste Labyrinth“, sagt
sie.
„Hallo“, begrüßt Marino sie. „Wann haben Sie in der
Gerichtsmedizin angerufen?“
„Weswegen hätte ich denn da anrufen sollen?“
„Um zu fragen, was in China die Eier kosten.“
„Wovon reden Sie eigentlich?“, will Reba wissen und
starrt auf die blutige Leiche im Bett.
„Von diesem Fall“, brummt Marino. „Was zum Teufel haben
Sie denn gedacht? Und warum besorgen Sie sich nicht endlich ein
Navigationssystem?“
„Ich habe nicht in der Gerichtsmedizin angerufen.
Warum auch, wo die Expertin doch gleich neben mir stand?“, gibt Reba mit Blick
auf Scarpetta zurück.
„Am besten tüten wir ihre Hände und Füße ein“, weist
Scarpetta an. „Und sie wird in die Überdecke und in eine saubere Plastikplane
eingewickelt. Die Bettwäsche muss auch mit.“
Sie geht zum Fenster, das Aussicht auf den Garten
und den Kanal bietet, betrachtet die vom Regen malträtierten Zitrusbäume und
denkt an den Kontrolleur, den sie vorhin beobachtet hat. Ganz sicher war es
dieser Garten, in dem er sich herumgetrieben hat, und sie versucht, sich an
den genauen Zeitpunkt zu erinnern. Vermutlich war es, kurz bevor sie den Schuss
gehört hat. Als sie sich wieder zum Zimmer umdreht, bemerkt sie zwei dunkle
Flecken auf dem Teppich, und zwar unmittelbar in der Nähe des Fensters.
Auf dem dunkelblauen Untergrund sind die Flecken
kaum auszumachen. Scarpetta holt ein Blutuntersuchungs-Set aus ihrer Tasche und
entnimmt ihm Chemikalien und Pipetten. Zwischen den beiden Flecken, beide oval
und etwa so groß wie ein Vierteldollar, befinden sich einige Zentimeter
Abstand. Sie betupft einen davon und träufelt erst Isopropylalkohol, dann Phenolphthalein
und schließlich Wasserstoffperoxid auf den Tupfer, der sich grellrosa verfärbt.
Das heißt zwar nicht zwangsläufig, dass die Blutflecken von einem Menschen
stammen müssen, doch die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch.
„Wenn es ihr Blut ist, warum dann dort drüben?“
Scarpetta spricht mit sich selbst.
„Vielleicht Spritzer“, schlägt Reba vor.
„Unmöglich.“
„Tropfen, und außerdem nicht ganz rund“, stellt
Marino fest. „Offenbar hat der Mensch, der geblutet hat, fast aufrecht gestanden.“
Er hält Ausschau nach weiteren Flecken.
„Ziemlich merkwürdig, dass sie nur hier und sonst
nirgendwo sind. Wenn jemand in diesem Raum stark geblutet hat, müsste man doch
noch mehr Spuren finden“, fährt er fort, als wäre Reba gar nicht anwesend.
„Auf einem dunklen Untergrund sind sie nur schwer zu
sehen“, wendet Scarpetta ein. „Aber ich kann auch keine entdecken.“
„Vielleicht sollten wir es mit Luminol versuchen.“
Marino straft Reba weiterhin mit Nichtachtung, und allmählich zeigt sich
Gereiztheit in ihrer Miene.
„Wenn die Spurensicherung kommt, soll sie eine
Faserprobe von diesem Teppich nehmen“, sagt Scarpetta in den Raum hinein.
„Und den Teppich staubsaugen, um Rückstände
sicherzustellen“, fügt Marino hinzu und weicht dabei Rebas finsterem Blick
aus.
„Bevor Sie gehen, brauche ich noch eine Aussage von
Ihnen, denn schließlich sind Sie ja derjenige, der die Tote gefunden hat“,
wendet sich Reba an ihn. „Ich weiß nicht, was Sie eigentlich hier zu suchen
hatten.“
Marino würdigt sie keiner Antwort, als ob sie für
ihn gar nicht existierte.
„Was halten Sie also davon, wenn wir beide kurz nach
draußen gehen, damit ich hören kann, was Sie mir zu sagen haben? Mark?“, ruft
Reba einen der Uniformierten herbei. „Könnten Sie Ermittler Marino auf
Schmauchspuren untersuchen?“
„Scheren Sie sich zum Teufel“, brummt Marino.
Scarpetta kennt diesen Ton, der für gewöhnlich einen
gewaltigen Wutausbruch ankündigt.
„Nur pro forma“, fügt Reba hinzu. „Schließlich
möchten Sie doch nicht, dass jemand Ihnen irgendetwas unterstellt.“
„Äh, Reba“, gibt der Polizist
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