Defekt
Knochensplitter. Sie kleben auch an dem ebenfalls mit Blut
bespritzten Kopfbrett des Bettes und an der Wand.
Scarpetta fährt mit der Hand unter die blutige
Joggingjacke, betastet Brust und Bauch und berührt dann die Hände. Die Tote ist
warm, die Leichenstarre noch nicht eingetreten. Scarpetta öffnet die Jacke und
schiebt ein chemisches Thermometer unter die rechte Achsel. Während sie
abwartet, bis dieses die Temperatur anzeigt, überprüft sie, ob außer der
offensichtlichen Kopfverletzung noch weitere Wunden vorliegen.
„Wie lange ist sie deiner Ansicht nach schon tot?“,
erkundigt sich Marino.
„Sie ist noch sehr warm. Keine Leichenstarre.“
Scarpetta denkt an das Geräusch, das Reba und sie
für eine Fehlzündung gehalten haben. Das muss vor etwa einer Stunde gewesen
sein. Sie geht zu dem Thermostat an der Wand hinüber. Die Klimaanlage läuft. Im
Schlafzimmer herrschen kühle achtzehn Grad. Sie notiert sich das und schaut
sich dann gründlich um. Der Boden des kleinen Schlafzimmers ist gefliest und
zum Großteil von einem dunkelblauen Teppich bedeckt, der von dem Bett mit der
blauen Daunendecke bis zu dem Fenster mit Aussicht auf den Kanal reicht. Die
Jalousien sind geschlossen. Auf dem Nachttisch steht ein Glas, das offenbar
Wasser enthält. Daneben liegen eine Großdruck-Ausgabe eines Romans von Dan
Brown und eine Brille. Auf den ersten Blick weist nichts auf einen Kampf hin.
„Vielleicht wurde sie ja, kurz bevor ich kam,
getötet“, mutmaßt Marino und versucht, sich seine Aufregung nicht anmerken zu
lassen. „Es könnte, nur wenige Minuten ehe ich hier angekommen bin, passiert
sein. Ich war zu spät dran. Jemand hat den Vorderreifen meiner Harley
zerstochen.“
„Absichtlich?“, fragt Scarpetta, die das für einen
merkwürdigen Zufall hält.
Wenn er früher eingetroffen wäre, wäre die Frau
vielleicht nicht ermordet worden. Sie erzählt ihm von dem Geräusch, bei dem es
sich, wie sie inzwischen überzeugt ist, um einen Schuss gehandelt hat.
Währenddessen kommt ein uniformierter Polizist aus dem Badezimmer und stellt
mehrere Medikamentendöschen auf die Kommode.
„Ja, es war Absicht“, erwidert Marino.
„Offenbar ist sie noch nicht lange tot. Wann hast du
sie denn gefunden?“
„Ich war seit etwa einer Viertelstunde hier, als ich
dich angerufen habe. Ich wollte sichergehen, ob im Haus alles sauber ist,
bevor ich etwas unternahm. Schließlich hätte sich der Täter ja im Schrank
verstecken können.“
„Und die Nachbarn haben nichts gehört?“
Marino erklärt, dass in den beiden Häusern links und
rechts niemand da ist. Das hat einer der uniformierten Kollegen bereits
überprüft. Er schwitzt stark, sein Gesicht ist hochrot, und ein wilder Blick
liegt in seinen weit aufgerissenen Augen.
„Ich habe keine Ahnung, was hier gespielt wird“,
sagt er, während der Regen weiter aufs Dach prasselt. „Irgendwie glaube ich,
dass uns jemand vorführen will. Du und Wagner, ihr wart direkt gegenüber am
anderen Ufer. Und ich bin zu spät gekommen, weil ich einen Platten hatte.“
„Ein Kontrolleur hat sich hier herumgetrieben“,
berichtet Scarpetta. „Er hat die Zitrusbäume untersucht.“ Sie erzählt ihm von
dem Pflückgerät, das der Mann auseinander genommen und in einer großen
schwarzen Tasche verstaut hat. „Ich werde der Sache gleich nachgehen.“
Sie zieht das Thermometer unter der Achsel der Toten
hervor und notiert sich sechsunddreißig Grad. Dann geht sie in das gekachelte
Badezimmer, um einen Blick in Dusche, Toilette und Papierkorb zu werfen. Das
Waschbecken ist trocken, ohne eine Spur von Blut oder anderen Verschmutzungen,
was keinen Sinn ergibt. Sie sieht Marino an.
„Die Handschuhe lagen also im Becken?“, fragt sie.
„Richtig.“
„Wenn der Täter - oder die Täterin - sie nach dem
Mord ausgezogen und ins Waschbecken geworfen hat, hätte der blutige Handschuh
doch Flecken hinterlassen müssen.“
„Nicht, falls das Blut schon getrocknet war.“
„Das kann aber nicht sein“, entgegnet Scarpetta. Im
Medizinschränkchen entdeckt sie die üblichen Mittel gegen verschiedene
Zipperlein und Verdauungsbeschwerden. „Außer der Täter hat sie lange genug
anbehalten.“
„So lange dauert das sicherlich auch nicht.“
„Möglich. Hast du die Dinger hier?“
Sie verlassen das Badezimmer, und Marino holt einen
großen braunen Asservatenumschlag aus einem Gerätekoffer. Er öffnet ihn, damit
Scarpetta einen Blick hineinwerfen kann, ohne die Handschuhe zu
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