Defekt
Gesichtsausdruck, den wir vielleicht als Erstaunen oder Neugier
deuten würden, legen sie als Wut oder Angst aus. Und das bringt sie in Rage.“
„Ein scheußlicher Gedanke.“
„Diesen Punkt muss ich bei meinen Befragungen der
Testpersonen noch viel genauer beleuchten. Und mit ihm fange ich an.“
Er holt ein Aspirindöschen aus der
Schreibtischschublade.
„Schauen wir mal. Während des
Farb-Wort-Interferenztests nach Stroop“, fährt sie mit Blick in den Bericht
fort, „zeigt er eine verminderte Aktivität des Anterior Cingulate Cortex sowohl
in den dorsalen als auch in den subgenualen Bereichen, begleitet von einer gesteigerten
dorsolateralen präfrontalen Aktivität.“
„Fassen Sie es für mich zusammen, Susan. Ich habe
Kopfschmerzen.“ Er schüttet sich drei Aspirintabletten in die Hand und
schluckt sie ohne Wasser. „Wie schaffen Sie das bloß?“
„Alles Routine. Also“, setzt sie die Analyse von
Basils Gehirn fort. „Im Großen und Ganzen weisen die Ergebnisse eindeutig auf
anomale Verbindungen im limbischen System hin, was eine ebenfalls anomale
Reaktionsunterdrückung vermuten lässt, welche wiederum in Defiziten in einer
Reihe frontal gesteuerter Prozesse begründet sein könnte.“
„Und diese beeinträchtigen seine Fähigkeit, sein
Verhalten zu steuern oder zu unterdrücken“, kommentiert Benton. „Das kommt bei
unseren reizenden Gästen aus Butler häufig vor. Könnte eine bipolare Störung im
Spiel sein?“
„Durchaus. Das und weitere psychiatrische
Erkrankungen.“
„Einen Moment bitte“, sagt Benton, greift zum
Telefon und ruft seine Assistentin an.
„Könnten Sie nachsehen, von welcher Nummer Kenny Jumper
angerufen hat?“, bittet er sie.
„Da heißt es >unbekannter Anrufer<.“
„Hmmmm“, brummt er. „Soweit ich weiß, werden Münztelefone
nicht als >unbekannter Anrufer< angezeigt.“
„Übrigens habe ich gerade mit Butler telefoniert“,
fährt sie fort. „Offenbar fühlt Basil sich nicht wohl und würde sich über Ihren
Besuch freuen.“
Jetzt, um halb sechs Uhr abends, ist der Parkplatz
des Gerichtsmedizinischen Instituts von Broward County praktisch leer. Die
Angestellten, insbesondere die aus der Verwaltung, machen nur selten
Überstunden in der Leichenhalle.
Das Gebäude liegt an der Southwest 31st Avenue,
mitten in einem verhältnismäßig dünn besiedelten Gebiet, wo zwischen Palmen,
Eichen und Pinien hin und wieder ein Wohnwagen steht. Das einstöckige Institut
ist im typischen Stil von Florida erbaut und besteht aus verputzten Wänden und
korallenrotem Stein. Es grenzt an einen schmalen Brackwasserkanal, wo es von
Moskitos wimmelt und Alligatoren hin und wieder auf Abwege geraten.
Unmittelbarer Nachbar ist die Feuerwache des Bezirks, sodass sich die Sanitäter
täglich vor Augen führen können, wo ihre Kundschaft im schlimmsten Fall landet.
Es regnet kaum noch, aber der Boden ist mit Pfützen
bedeckt, als Scarpetta und Joe zu dem silbernen Hummer H2 gehen. Es ist zwar
nicht unbedingt das Fahrzeug ihrer Wahl, allerdings gut geeignet, wenn Tatorte
in unwegbarem Gelände liegen oder sperrige Ausrüstungsgegenstände im Spiel
sind. Lucy hat eine Schwäche für Hummer, während Scarpetta immer befürchtet,
mit so einem riesigen Geländewagen keinen Parkplatz zu finden.
„Ich begreife einfach nicht, wie es jemand schaffen
konnte, mitten am helllichten Tag mit einem Gewehr ins Haus zu spazieren“,
sagt Joe zum wohl hundertsten Mal in der letzten Stunde. „Bestimmt kann man
feststellen, ob der Lauf abgesägt war.“
„Wenn er nach dem Absägen nicht geglättet wurde,
finden sich am Bodenpfropfen vielleicht noch Riefen des Laufs“, erwidert
Scarpetta.
„Allerdings bedeutet das Nichtvorhandensein solcher
Riefen nicht, dass der Lauf nicht abgesägt war.“
„Richtig.“
„Denn der Täter könnte den abgesägten Lauf geglättet
haben. In diesem Fall wissen wir es erst, wenn wir die Waffe sicherstellen.
Kaliber zwölf. So viel steht fest.“
Das haben sie aus dem Remington-Bodenpfropfen mit
den vier Einkerbungen aus Plastik geschlossen, den Scarpetta im Inneren von Daggie
Simisters zerschmettertem Schädel entdeckt hat. Abgesehen davon, kann Scarpetta
nur wenig mit Gewissheit sagen. Zum Beispiel ist sie nach der Autopsie sicher,
dass sich der Angriff auf Mrs. Simister ganz anders abgespielt haben muss als
allgemein angenommen. Vermutlich hätte sie auch nicht überlebt, wenn nicht auf
sie geschossen worden wäre. Scarpetta ist überzeugt,
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