Defekt
mehr.“
„Ich darf nicht über meine Arbeit reden. Nicht
einmal mit Ihnen.“
„Ich verlange ja keine Einzelheiten über Fälle und
Ermittlungen von Ihnen. Allerdings können Sie mir alles anvertrauen. Was hier
in diesem Zimmer gesprochen wird, bleibt unter uns.“
„Falls Sie es nicht im Radio oder in Ihrer neuen
Fernsehsendung bringen.“
„Wir sind jetzt aber weder im Radio noch im
Fernsehen“, erwidert Dr. Seif und schmunzelt wieder. „Wenn Sie dort auftreten
wollen, kann ich das jederzeit arrangieren. Sie wären sicher ein viel
interessanterer Gast als Dr. Arnos.“
„Der Typ ist ein Flachwichser und ein Arschloch.“
„Pete?“, ermahnt sie ihn, natürlich in freundlichem
Ton. „Ich bin mir sehr wohl dessen bewusst, dass Sie Aversionen gegen Dr. Arnos
haben und sich von ihm verfolgt fühlen. Aber in diesem Moment befinden sich
weder ein Mikrofon noch eine Kamera im Raum. Nur wir beide.“
Er blickt sich um, als glaube er ihr nicht ganz, und
sagt dann: „Es gefällt mir nicht, dass sie in meiner Gegenwart mit ihm
telefoniert hat.“
„Mit >ihm< meinen Sie Dr. Wesley, mit
>ihr< Dr. Scarpetta.“
„Erst zitiert sie mich zu sich, und dann telefoniert
sie, während ich neben ihr sitze.“
„Genau so fühlen Sie sich auch, wenn mein
Anrufbeantworter anspringt.“
„Sie hätte ihn doch anrufen können, wenn ich nicht
dabei bin. Das hat sie absichtlich getan.“
„Das ist eine Angewohnheit von ihr, richtig?“, hakt
Dr. Seif nach. „Sie reibt Ihnen ihren Liebhaber unter die Nase, obwohl sie doch
wissen muss, was Sie davon halten und wie eifersüchtig Sie sind.“
„Eifersüchtig? Worauf denn, zum Teufel? Etwa auf
dieses reiche Bürschchen, diesen abgewrackten FBI-Typen, der seine Täterprofile
nach dem Horoskop erstellt?“
„Das stimmt wohl nicht ganz. Der Mann ist
forensischer Psychologe, Dozent in Harvard und stammt aus einer angesehenen
neuenglischen Familie. Hört sich für mich recht beeindruckend an.“
Sie ist Benton nie begegnet, würde ihn aber gern
kennen lernen und ihn in ihre Show einladen.
„Er ist Schnee von gestern. Nur Leute, die nichts
mehr zu melden haben, unterrichten an der Uni.“
„Ich glaube, er unterrichtet nicht nur.“
„Er ist Schnee von gestern.“
„Offenbar sind die meisten Leute aus Ihrem Bekanntenkreis
Schnee von gestern. Einschließlich Dr. Scarpetta. Über sie haben Sie nämlich
dasselbe gesagt.“
„Ich nenne die Dinge eben beim Namen.“
„Ich frage mich, ob Sie sich vielleicht auch wie
Schnee von gestern fühlen.“
„Wer? Ich? Das soll wohl ein Witz sein. Inzwischen
kann ich fast das Doppelte meines Gewichts stemmen, und letztens auf dem
Laufband bin ich sogar gerannt. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren.“
„Unsere Zeit ist gleich um“, erinnert Dr. Seif ihn
erneut. „Sprechen wir über Ihre Wut auf Dr. Scarpetta. Da geht es auch um
Vertrauen, richtig?“
„Nein, um Respekt. Darum, dass sie mich behandelt
wie den letzten Dreck und mich belügt.“
„Sie haben das Gefühl, dass sie Ihnen nicht mehr
vertraut, und zwar wegen der Vorfälle in Knoxville im letzten Sommer. Dort, wo
sie Experimente mit Leichen durchführen. Wie heißt die Einrichtung noch einmal?
Verwesungsforschungirgendwas?“
„Forensisches Labor zur Erforschung von
Verwesungsprozessen. Wir nennen es Body Farm.“
„Ach ja.“
Was für ein spannendes Thema für eine Show. Die Body
Farm ist keine Schönheitsfarm. Fragen zum Tod. Besprechen Sie es mit Dr. Seif.
Sie hat den Trailer schon vor Augen.
Marino schaut auf die Uhr. Demonstrativ hebt er sein
massiges Handgelenk, um nachzusehen, wie spät es ist, so als kümmere es ihn
nicht im Geringsten, dass ihre Zeit gleich um ist. So als freue er sich sogar
darauf.
Dr. Seif lässt sich nicht davon täuschen.
„Angst“, beginnt Dr. Seif ihre Zusammenfassung.
„Eine existenzielle Angst davor, nicht zu zählen, keine Rolle zu spielen, mutterseelenallein
gelassen zu werden. Wenn der Tag vorbei ist, wenn das Gewitter endet, wenn
Dinge vergehen. Es macht Angst, wenn etwas aufhört, richtig? Geld geht zur
Neige. Die Gesundheit kann man verlieren. Die Jugend ist irgendwann vorbei. Die
Liebe auch. Vielleicht trifft das auch auf Ihre Beziehung zu Dr. Scarpetta zu.
Vielleicht ist sie gerade im Begriff, sich von Ihnen zu lösen.“
„Da gibt es nichts zu beenden, bis auf die Arbeit,
und die wird immer so weitergehen, weil Menschen das Hinterletzte sind und sich
noch gegenseitig umlegen werden, wenn ich schon längst
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