Defekt
schweigend im Wagen
gesessen. Sie sind auf dem Weg zum Polizeiparkplatz in Hollywood, damit Joe
seine rote Corvette abholen kann. Dann ist Scarpetta ihn endlich für den Rest
des Tages los.
„Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich inzwischen
meinen Tauchschein habe?“, fragt er plötzlich.
„Glückwunsch“, erwidert Scarpetta und gibt sich
nicht einmal Mühe, Interesse zu heucheln.
„Ich bin gerade dabei, mir eine Eigentumswohnung auf
den Cayman-Inseln zu kaufen. Tja, nicht ganz. Meine Freundin und ich kaufen sie
gemeinsam. Sie verdient mehr als ich“, ergänzt er. „Was sagen Sie dazu? Ich bin
Arzt und sie nur Rechtspflegerin, nicht einmal eine richtige Anwältin, und
trotzdem verdient sie mehr als ich.“
„Ich habe nie angenommen, dass Sie sich aus
finanziellen Gründen entschieden haben, forensischer Pathologe zu werden.“
„Aber auch nicht mit der Absicht, zu verarmen.“
„Dann sollten Sie sich vielleicht überlegen, ob Sie
nicht den Beruf wechseln wollen, Joe.“
„Ihnen scheint es offenbar an nichts zu fehlen.“
Als sie an einer roten Ampel halten, dreht er sich
zu ihr um, und sie spürt seinen Blick.
„Vermutlich kann es nicht schaden, eine Nichte zu
haben, die so reich ist wie Bill Gates“, fügt er hinzu. „Und einen Freund, der
aus einer wohlhabenden neuenglischen Familie stammt.“
„Was genau wollen Sie damit andeuten?“, fragt
Scarpetta und denkt dabei an Marino.
An seine Horror-Szenen.
„Dass man sich natürlich keine Gedanken über Geld zu
machen braucht, wenn man genug davon hat. Und dass Sie es möglicherweise nicht
selbst verdient haben.“
„Meine Finanzen gehen Sie zwar nichts an, aber wenn
man so viele Jahre im Geschäft ist wie ich und sich geschickt anstellt, kommt
man gut zurecht.“
„Hängt davon ab, was man unter zurechtkommen
versteht.“
Scarpetta erinnert sich, wie beeindruckt sie von
Joes Bewerbungsunterlagen gewesen war. Als er sich an der Akademie für die
Ausbildung zum Facharzt bewarb, war sie überzeugt, einen der vielversprechendsten
Jungmediziner ihrer Karriere vor sich zu haben. Es will ihr einfach nicht in
den Kopf, wie sie sich so in ihm hat täuschen können.
„Offenbar nagt keiner Ihrer Freunde am Hungertuch“,
fährt Joe in zunehmend gehässigem Tonfall fort. „Sogar Marino verdient mehr
als ich.“
„Woher wollen Sie das wissen?“
Das Dienstgebäude der Polizei von Hollywood erhebt
sich dicht vor ihnen auf der linken Straßenseite, ein vierstöckiger Fertigbau,
so nah an einem öffentlichen Golfplatz gelegen, dass häufig Bälle über den Zaun
fliegen und die Streifenwagen verbeulen. Scarpetta fällt auf, dass Joes
kostbare rote Corvette weit abseits steht, damit sie auch ja keinen Kratzer
abbekommt.
„Jeder weiß, was der andere verdient“, antwortet
Joe. „Diese Informationen sind doch allgemein zugänglich.“
„Nein, das sind sie nicht.“
„In einem so kleinen Institut gibt es keine
Geheimnisse.“
„So klein ist die Akademie nun wirklich nicht, und
einige Dinge sollten auch dort vertraulich bleiben. Die Gehälter zum Beispiel.“
„Ich müsste eigentlich ein höheres Gehalt bekommen.
Marino ist kein Arzt, hat nur mit knapper Not die Highschool abgeschlossen
und kriegt trotzdem mehr als ich. Und Lucy tut doch nichts weiter, als sich mit
ihren Ferraris, Helikoptern, Flugzeugen wichtig zu machen und die
Geheimagentin zu spielen. Mich würde interessieren, was zum Teufel sie leistet,
um so einen Luxus zu rechtfertigen. Die tolle Superfrau, die sich für die
Größte hält und auf uns Normalmenschen herabblickt. Kein Wunder, dass die
Lehrgangsteilnehmer sie nicht leiden können.“
Scarpetta stoppt hinter Joes Corvette und sieht ihn
so ernst an, wie er es bei ihr vermutlich noch nie erlebt hat.
„Joe?“, sagt sie. „Sie haben noch einen Monat bei
uns. Wir wollen ihn so gut wie möglich hinter uns bringen.“
Nach Dr. Selfs fachkundiger Meinung ist Marinos
momentaner Gesichtsausdruck der Grund für die meisten größeren Probleme in
seinem Leben.
Die unterschwellig negative Ausstrahlung - nicht
seine Miene an sich - ist es, die ihn immer wieder in neue Schwierigkeiten
bringt, obwohl er davon wirklich schon genug hat. Wenn er seine geheimen
Ängste, Abneigungen, Kränkungen, sexuellen Unsicherheiten, Vorurteile und all
die weiteren unterdrückten negativen Gefühle nur nicht immer so indirekt äußern
würde. Im Gegensatz zu den meisten Menschen erkennt Dr. Seif die Anspannung um
seinen Mund und in seinem
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